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Und die Eigenverantwortung?

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Das Urteil, mit dem die Bozner Strafrichterin Giulia Rossi fünf Überlebende eines Lawinenabgangs auf der Haideralm zu Haftstrafen verurteilt hat, macht Skitourengeher und Variantenfahrer – mehr als bisher – zu potenziellen Straftätern. Es genügt, dabei zu sein.

von Thomas Vikoler

Etwas, was im Winter in Südtirols Bergen täglich bis zu hundertfach stattfindet: Eine Gruppe von Skifahrern – Skitourengeher oder Variantenfahrer – entschließt sich zu einer gemeinsamen Abfahrt über einen frisch verschneiten Hang. In den seltensten Fällen passiert es: Eine Lawine geht ab, ein oder sogar mehrere Teilnehmer der Gruppe sterben unter den Schneemassen.

Die Überlebenden sind traumatisiert und machen sich möglicherweise Vorwürfe, aber die Schuldfrage steht nicht im Vordergrund. Schließlich hatte man die Entscheidung zur Abfahrt (oder Durchquerung eines Hanges) gemeinsam getroffen.

Genauso wie die Gruppe aus Baden-Württemberg, die am frühen Nachmittag des 3. Jänner 2018 im Skigebiet Schöneben von einem Schneebrett überrascht wurde. Die Abfahrenden wurden teilweise verschüttet, die 45-jährige Petra Theurer und ihre zehnjährige Tochter Mia kamen zu Tode.

Die Schuldfrage, zumindest in strafrechtlicher Hinsicht, zu diesem tödlichen Lawinenabgang wurde in einem Hauptverfahren am Bozner Landesgericht geklärt. Am 13. Dezember verkündete Strafrichterin Giulia Rossi ihr Urteil: Drei Männer und eine Frau wurden wegen fahrlässiger Tötung und Auslösens einer Lawine zu je eineinhalb Jahren Haft verurteilt, der Ehemann und Vater der beiden Verstorbenen zu einem Jahr und zwei Monaten (die TAGESZEITUNG berichtete).

„Das ist ein Präzedenzurteil, gegen das wir Berufung einlegen werden“, sagt der Bozner Anwalt Oskar Plörer, der die ersten vier erstinstanzlich Verurteilten vertritt. Er hatte in seinem Plädoyer – wie die Vertreterin der Anklage – einen Freispruch gefordert und hat zahlreiche Kritikpunkte an der Urteilsbegründung der Richterin.

Diese verhängte mit ihrem Urteil nämlich eine Kollektivstrafe ohne Unterscheidung der Rolle der einzelnen Teilnehmer der Gruppe. „Somit ist die Handlung des letzten Skifahrers Teil der Handlung der vorangegangenen Skifahrer, von dem sie nicht zu trennen ist. Demzufolge kann die Handlung des Einzelnen keine unabhängige Ursache darstellen“, heißt es in der Urteilsbegründung.

„Hier verwechselt die Richterin zwei verschiedene Ebenen der strafrechtlichen Untersuchung, jene der Fahrlässigkeit und jene des materiellen Kausalzusammenhangs“, findet Verteidiger Plörer.

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Die Richterin geht davon aus, dass die Abfahrt abseits der Piste nicht verboten gewesen sei und, wie Zeugen erklärten, die Lawinenwarnschilder etwas ungeschickt platziert waren. Sie hält den Verurteilten aber vor, die Gefahr eines Lawinenabgangs unterschätzt zu haben. Ein sogenanntes „fahrlässiges Zusammenwirken“. Diese Einschätzung tätigt sie u.a. auf der Grundlage des Lawinenwarnberichts für jenen Tag mit einer Warnstufe von drei („erheblich“). Allerdings: Warnstufe drei (von fünf) ist auf Südtirols Bergen während des Winters die häufigste Warnstufe und gilt unter Skitourengehern als eine, die Aufstiege und Abfahrten zulässt – freilich nach Prüfung der spezifischen Verhältnisse.

Bemerkenswert ist ebenso, dass Richterin Rossi das Gelände, wo sich das Lawinenunglück im Bereich der Haideralm ereignete, als „de facto besiedelt“ einstuft (Zeugen sprachen von einer „beliebten Variante“), womit die Voraussetzung einer potenziellen Gefahr für Dritte gegeben gewesen sei. Das erinnert an einen der wenigen Fälle, in denen es bisher in Italien rechtskräftige Verurteilungen wegen Auslösens einer Lawine gab: Jene gegen den Partschinser Bergführer-Anwärter Kuno Kaserer, der nach einem Freispruch in der ersten Instanz vom Bozner Oberlandesgericht zu einer Haftstrafe verurteilt wurde.

Das Urteil zum Fall Haider-Alm macht Skitourengeher und Variantenfahrer – mehr als bisher – zu potenziellen Straftätern. Es reicht, bei einer Abfahrt im freien Gelände dabei zu sein und die Kollektivstrafe greift (es ist freilich zu sehen, ob das Urteil der weiteren Prüfung standhält).

Bei Lawinenabgängen stellt sich jeweils die Frage, wie diese ausgelöst wurden. Für Richterin liegt es „jenseits jeglichen vernünftigen Zweifels“, dass das Schneebrett auf der Haider Alm auf einen „menschlichen Faktor“ zurückzuführen ist. Bis zu neun Personen hätten es ausgelöst. Für Verteidiger Plörer ist das alles andere als bewiesen. Jürg Schweizer, ein Glaziologe aus Davos, hatte als Gerichtsgutachter im Beweissicherungsverfahren erklärt, dass es „fast unmöglich ist, eine schlüssige Rekonstruktion des Unfallhergangs zu machen“. Die Lawine könnte also genauso gut vom letzten, nicht identifizierten Skifahrer ausgelöst worden sein, und in diesem Fall könnten nicht alle Gruppenmitglieder strafrechtlich belangt werden, findet der Anwalt.

Als Teil ihrer fahrlässigen Handlungen sieht Richterin Rossi auch den Umstand, dass bis auf Dirk Theurer (er erhielt deswegen eine um vier Monate geringere Haftstrafe) alle Verurteilten keine Sicherheitsausrüstung (Piepser) für die Lawinenbergung bei sich hatten. Hier wendet Plörer ein, dass die Anklage ihnen dies gar nicht vorgehalten hatte.

Er bemängelt auch, dass die Richterin das von ihm eingebrachte Thema der Eigenverantwortung im Urteil überhaupt nicht berücksichtigt hat. Es gebe keine Hinweise dafür, dass einer der Teilnehmer der Gruppe aus Baden-Württemberg gegenüber den andere eine Garantenstellung gegenüber den anderen eingenommen habe, wie sie beispielsweise ein Bergführer oder Skilehrer hätte. Alle Abfahrenden, einschließlich der beiden späteren Todesopfer, sei eine strafrechtlich relevante Eigenverantwortung zuzuschreiben. Plörer: Die Entscheidung zur Abfahrt wurde spontan und von jedem Gruppenmitglied für sich selbst bzw. im Falle der Minderjährigen durch die anwesenden und mitfahrenden Eltern getroffen“.

Eine Entscheidung, wie sie in Südtirols Bergen täglich bis zu hundertfach getroffen wird.

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