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Flaneur, Bartleby, Oblomow

Gerd Sulzenbacher: „Nichts getan, nirgends gewesen, niemand hat mich besucht“, wird notiert. Oder: „Um etwas Neues anzufangen, fehlte mir das Interesse. Um mit mir etwas anzufangen, die Lust.“ (Foto: Mathias Müller, Neuberg, 2018)

Tagträumen und Dahintreiben gegen die Zumutungen von Selbstoptimierung und Perfektionierung: Gerd Sulzenbacher legt mit der Erzählung „Abriss“ sein literarisches Debüt vor.

Von Christine Vescoli

„Abriss“ heißt das Debüt des Südtiroler Dichters Gerd Sulzenbacher (*1993), das kürzlich in der Edition Engeler erschienen ist. Der Titel reißt gleich eine mehrfache Bedeutung auf. Zum einen wird bei einem Abriss einiges niedergemacht, abgetragen und abgebrochen. Zum anderen ist ein Abriss auch ein Entwurf, eine Zeichnung oder eine kurze Zusammenfassung einer Geschichte oder eines Textes. Und wenn wir so wollen, fällt uns bei „Abriss“ noch jener Teil ein, der von einem Ticket oder einer Eintrittskarte zur Entwertung abgerissen wird.

Was nun hat es damit in dem Buch von Gerd Sulzenbacher auf sich? Vielleicht einiges. Aber auch wenn es mit all dem keine sonderliche Berührung hätte, würde es uns nicht überraschen. Dann so, wie sich die saloppe Erzählfigur durch das Buch bzw. durch die Welt bewegt und alles, was ihr in die Quere kommt, nachlässig, nahezu schludrig wahrnimmt und schon wieder fahren lässt, so könnte auch die Bedeutung, die der Titel verspricht, sich jederzeit in Luft auflösen.

Was ist schon gültig am dahingleitenden, nirgends bleibenden Stromern dieses geschwätzigen Ichs? Und wer ist es überhaupt, der oder die da spricht, mal nörgelnd und mal euphorisch, mal gelangweilt und mal bissig, mitunter auch gehässig?

Vom Leben dieses erzählenden Ich erfahren wir nicht viel. Beiläufig, dass es in einem Archiv und in Bibliotheken arbeitet und einer Dissertation „zur Repräsentation und Ästhetik regionaler und nationaler Wahlkampfplakate im D/A/Ch Raum von 1989 – 2019 am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien“ nachgeht. Sogar ein Name wird genannt, Markus Meyer. Ob auch das ein Täuschungsmanöver ist, sei dahingestellt, denn diese erzählerische Figur liebt es, mit der Welt einen Schabernack zu treiben.

Und doch erfahren wir allerhand von ihr. Sie lässt uns nämlich so sehr teilhaben an ihrem Alltag und ihrem Tun, sie stülpt uns so sehr ihre Gedanken zu dem über, was mit ihr und um sie herum geschieht, dass wir ihr Temperament bis in die Zehen zu spüren meinen.

Da ist also ein gehöriger Schlendrian durch Wien unterwegs. Er schlägt sich durch Gassen, Straßen und über Plätze und denkt sich in diesem trägen Treiben so allerhand. Das Denken ist aber auch schon nahezu alles, was er tut. Freilich schlurft er durch halb Wien und schimpft über Hipster und Spießer, belächelt Glückliche wie Unglückliche und sinniert sinnig über Sein und Schein.

Aber was sein Tun darüber hinaus wäre, ist schwer zu sagen oder auch wieder nicht, denn eigentlich ist es nicht viel: „Nichts getan, nirgends gewesen, niemand hat mich besucht“, wird notiert. Oder: „Um etwas Neues anzufangen, fehlte mir das Interesse. Um mit mir etwas anzufangen, die Lust.“

Auf solche und ähnliche Sätze stößt man in den 66 Kapiteln dieser flatterhaften Prosa immer wieder und allmählich wird auch klar, dass wir es hier mit einer Kunstfigur zu tun haben, die wir nicht zuletzt aus der Literaturgeschichte kennen. Ein bisschen Flaneur, ein bisschen Bartleby („I would prefer not to“), ein bisschen tragikomischer Oblomow – das Ich aus Sulzenbachers „Abriss“ ist ein Nachfahre der Figuren der Verweigerung und Verneinung, der Figuren, die sich gegen die Welt und die Zeitgeschichte stellen und sich lieber dem Tagträumen und Dahintreiben hingeben, als dass sie sich den Zumutungen von Selbstoptimierung und Perfektionierung ausliefern.

Das Tun dieser Figur ist das Reden. Wie im Gehen durch die Stadt, läuft sie im Reden in alle Richtungen, droht in überbordendem Fluss auszuufern und lotterhaft einem logorrhoischen Fluchtverhalten zu unterliegen. Sie kommt vom Hundertsten ins Tausendste, gerät stolpernd auf die schiefe Bahn redundanter Signifikanten, schlittert in die Verschiebung von Sagen, Sinn und Bedeutung, kurzum: in die exzentrische Entgleisung, die der Lust an der Geschwätzigkeit eigen ist.

Hier nimmt es jemand monologisch mit allem auf, was ihr unterkommt, hier nimmt jemand redend Fahrt auf, ohne auf ein brauchbares Ende oder Ziel hinzusteuern. Dieser richtungslose Gang der Rede legt gar nicht so sehr Wert auf das Beredete, also das, was es zu sagen gilt. Vielmehr frönt der oder die oder das Redende der aufgeladenen und enthemmten Verknüpfung der Gedanken und zelebriert deren phantastische Anordnung, in der das dauerquasselnde Ich paradox zusammenlegt, was ihm gerade unter die Nägel kommt. Dann kommt es vor, etwas auch verrückt und vergnügt ins Kraut schießt oder dass der Erzähler aufschiebt, was er verspricht. Wie bei Robert Walser lesen wir: „Aber davon später.“ Nur kommt das Später nie.

Klar, dass hier ein anarchischer Witz am Werk ist und dass der Erzählfigur ein unzähmbarer, ein unverbesserlicher Schalk im Nacken sitzt. Klar, dass hier der Ironie das Wort gehört und dass in der Paradoxie und im Absurden die anarchische Lust des Erzählens steckt. Fortwährend vernichtet sie Thematisches und lässt es nonchalant fallen, um im Humor eine Wirklichkeit zu durchlöchern, die zunehmend nach Gewinn und Geld codiert ist.

Und doch ist in diesem irrwitzigen Treiben da und dort eine Trauer zu spüren. Es ist nämlich nicht nur das Ich auf Abriss aus. So, wie es durch die Stadt zieht und, tatenlos in seinen Abenteuern, doch nicht vom Fleck kommt, beobachtet es auch den Abriss alter Ecken und das Auslöschen von nicht genehmen Orten. Nach und nach werden sie zum Verschwinden gebracht, um eine Stadt nach dem sauberen Entwurf gentrifizierter Ordnung neu zu schreiben. An ihrem Rand steht der Souverän des Witzes, unterlegen dem Moloch des Gelds.

Gerd Sulzenbacher: Abriss. Prosa, Urs Engeler Verlag

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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