Pietistische Erwärmung

Das „Collegium Vocale Salzburg“ und das Barockorchester „Le Concert Lorrain“ unter der Leitung von Stephan Schultz im Brixner Dom: Ständig wechselnder Herzschlag zwischen Ruhe und Erregung
Drei Stunden lang selten erlebte Intensität: Das „Collegium Vocale Salzburg“ und das Barockorchester „Le Concert Lorrain“ unter der Leitung von Stephan Schultz führten in Brixen und Meran Bachs Matthäus-Passion auf.
Von Hubert Stuppner
Der Kafka-Herausgeber Max Brod macht noch heute mit der These von sich reden, dass die gesamte europäische Musikgeschichte von vier mächtigen Säulen getragen wird: von Bachs Matthäuspassion, von Beethovens Neunter Symphonie, von Wagners „Tristan“ und von Mahlers „Neunter.“ Alles Werke am Ende einer epochalen Entwicklung als Zusammenfassung fundamentaler Geschichts-Entwürfe: Bachs „Passion“ als Pendant zur Kunst der gotischen Dom-Baumeister,, Beethovens Neunte als Apotheose von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, und Wagners „Tristan“ als Flucht aus dem Christentum in den germanischen Mythos.
Vergleicht man Mahlers „Neunte“ mit Bachs Matthäus-Passion, so begreift man, in welche Richtung sich das christliche Abendland entwickelt hat. Was Bachs Musik darstellt, nämlich ein in Gott ruhendes Weltbild im Sinne von Leibniz‘ idealistischer Philosophie des Diesseits als „der besten aller Welten“ (Bach in der Matthäus-Passion:“ Was mein Gott will, das gescheh‘ allzeit, sein Will der ist der beste“), wird in Mahlers Symphonik als pessimistische Kunstreligion des entfremdeten Individuums in der Welt dargestellt, in einer Welt ohne den Gott, den bereits Nietzsche für tot erklärt hat. Was jedoch beide – Bach und Mahler -verbindet, ist die Verständigung mit dem Zuhörer mittels Kunstfertigkeit und Schönheit und der Entwurf einer konsonanten Gegenwelt zur realen.
Diese Wirkung von Musik als Tröstung erreichte in den zwei Aufführungen der „Matthäus-Passion“ in Meran und Brixen am Wochenende drei Stunden lang eine selten erlebte Intensität. Das ästhetische Konzept der Interpretation durch ein österreichisch-französisches Ensemble war nämlich nicht allein die Dramatisierung der Leidensgeschichte als Kirchenoper, sondern vor allem die pietistische Erwärmung der Zuhörer im Zwischenbereich von Oratorium und „Karfreitagszauber“. Besagte Tröstung ist bereits in Bachs Noten angelegt (was bekanntlich den damaligen gestrengen Kirchenvorstehern nicht gefiel), etwa in der durchgehenden Dreierbewegung des Grund-Zeitmaßes, am deutlichsten im wiegenden Takt des 6/8-„Siciliano“ – Rhythmus, der in zahlreichen Arien Balsam in Christi Wunden gießt und, von weichen Holzbläsern begleitet, zur Grabeslegung engelgleiche Wiegenlieder singt.
Dieses drei Stunden dauernde Erlebnis bescherten dem zahlreichen Publikum das „Collegium Vocale Salzburg“ und das Barockorchester „Le Concert Lorrain“ unter der Leitung von Stephan Schultz. Prominente Solisten waren der Sopran Tehila Nini Goldstein, der Alt Lara Morger, der Bariton Mattias Vieweg und der Bass Felix Rumpf. Diese überragte der Tenor Markus Schäfer, der als Evangelist und Chronist alle vokalen und emotionalen Register zog und das gesamte Ensemble in Dauer-Erregung versetzte: ein großer Künstler, der das Publikum mit „Jesus aber sprach“ fesselte, einer, der bereits unter Harnoncourt den Evangelisten sang und dafür einen Grammy erhielt.
Vorne am Dirigentenpult der begnadete Barock-Dirigent Stephan Schultz, der das dichte polyphone Geschehen souverän überblickte und zusammenhielt. Seine Körpersprache bewies nicht nur Kompetenz in Sachen Text-Diktion und Polyphonie, sondern wies ihn auch als Kenner der barocken Rhetorik und Affektsprache aus. Die Gesetze der musikalischen Rhetorik folgen bekanntlich den linguistischen, die wiederum vom ständig wechselnden Herzschlag zwischen Ruhe und Erregung bestimmt werden: Sie äußern sich in Anheben, Absetzen, Beschleunigen, Tempo Aufnehmen und Steigern bis zum Höhepunkt und wiederum aus dem Klimax zur Ruhe Kommen: barocke Rhetorik als „Redefluss“ oder – wie es bei Beethoven heißt – als Prosodie.
Die Matthäus-Passion umgibt auch aus anderen Gründen ein besonderer Nimbus. Man weiß, dass ein Menschenleben nicht ausreichen würde, Bachs Oeuvre – mit der Feder des Meisters – abzuschreiben. Aber nicht nur das hat zahlreiche Dichter und Denker, unter ihnen auch Gottesleugner und Agnostiker, dazu bewogen, in dieser Passion einen Gottesbeweis zu sehen. Nach Nietzsche hat in neuerer Zeit auch der französisch-rumänische Existenzialist Emile Cioran gemeint: „Wenn man bedenkt, dass so viele Philosophen und Theologen Tage und Nächte damit verloren haben, nach Gottesbeweisen zu suchen, und den eigentlichen verloren haben. Nach einem Oratorium, einer Kantate oder einer Passion muss er existieren. Sonst wäre das ganze Werk des Kantors nur eine herzzerreißende Illusion.“.
In jüngster Zeit hat auch die verloren geglaubte Wiederauffindung der Original-Partitur der Matthäus-Passion den Unsterblichkeits-Nimbus dieses Werks bestärkt. Nach der Wiederentdeckung dieser Partitur durch Mendelssohn 1829 in der vom Goethe-Freund Zelter geführten Musikbibliothek des Singvereins Berlin, wurde diese einmalige Musiksammlung unter dem Bombenhagel auf Berlin 1944 auf zahlreiche Waggons verladen und zur Rettung in Richtung Ostpreußen in Bewegung gesetzt, wo der Zug jedoch den heranrückenden Sowjets in die Hände fiel. Der KGB erkannte den Wert der 500.000 Notenblätter und ließ sie in einem Depot in Kiew ein zwischenlagern, wo der ukrainische Komponist Karabits für Sicherheit und Lüftung sorgte. Bis 1989 die Mauer fiel und die Ukraine unabhängig wurde. Ab diesem Zeitpunkt stand eine Rückerstattung nach Berlin nichts mehr im Wege. Seit 2001 ist der gesamte Singverein-Fundes samt Matthäus-Passion wieder in Berlin. Ob der neue Moskauer KGB in Zukunft denselben Kultursinn aufbringen würde und die Originalpartitur der Matthäus-Passion verschonen würde, wie noch unter Sowjet-Zeiten, muss man angesichts der barbarischen Dauerbombardierung der Ukraine leider bezweifeln.
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