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War die Mission ein kolonialistisches Projekt?

Belinda Kazeem-Kamiński: Ich bin kein Racheengel (Foto: Lea Sonderegger)

Die in Wien geborene nigerianische Künstlerin Belinda Kazeem-Kamiński befasst sich mit Missionsgeschichte. Für ihre Ausstellung „Aerolectics“ bei Kunst Meran hat sie die Geschichte von drei afrikanischen Mädchen erforscht, die als Kinder von einem italienischen Priester in Afrika „freigekauft“ und in das Ursulinenkloster von Bruneck gebracht wurden.

Tageszeitung: Frau Kazeem-Kamiński, meine Großmutter hatte die Zeitschrift „Missionsbote“ abonniert. Auf den Bildern waren meistens Nonnen oder Missionare umringt von afrikanischen Kindern zu sehen, dazu gab es Geschichten von der Missionsarbeit, stets verknüpft mit der Bitte um Spenden. Als Kind habe ich die Hefte mit einer gewissen Bewunderung gelesen. Die Missionare waren die Guten.

Belinda Kazeem-Kamiński: Ich kenne diese Zeitschrift nicht und will kein Urteil darüber abgeben, aber generell sollten wir uns heute schon fragen, warum die Missionare überhaupt auf dem afrikanischen Kontinent waren. Sicher nicht nur aus Nächstenliebe.

Sondern …

Allein die Vorstellung, auf einen anderen Kontinent zu gehen, um anderen Menschen seine Religion mitzubringen und aufzudrängen, setzt ein bestimmtes Bild von Afrika voraus. Es setzt die Meinung voraus, dass die Menschen in Afrika keine eigene Religion und Weltbeziehung haben und meine Religion die einzig richtige ist.

Im Missionsboten wurden die afrikanischen Kinder als Heidenkinder bezeichnet, deren Seelen gerettet werden müssen.

Der Mission ging es nicht um die Rettung von Menschen, sondern um Seelenrettung. Gerettet wird eine Seele durch die Taufe und folgerichtig bedeutete jede gerettete Seele für die Mission eine Bestätigung ihres Tuns. Den Kindern wurde ja auch erzählt, dass sie allein durch ihre schwarze Hautfarbe schon gebrandmarkt seien und nur durch die Taufe gerettet werden können. Sie waren quasi von Natur aus verdammt. Darin steckt das binäre europäische Denken: Hier Kultur, dort Natur, hier zivilisiert, dort wild.

Die meisten Missionare waren doch Menschen guten Willens, die helfen wollten.

Das bezweifle ich nicht. Mir geht es nicht darum, wie ein Racheengel einzelne Missionare an den Pranger zu stellen, es geht um das System dahinter. Und Missionare waren nun einmal Teil eines kolonialistischen Systems. Das darf man nie vergessen. Viele haben ja nicht nur missionarisch gewirkt, sondern waren auch Forscher und Sammler von ethnologischen Objekten, die dann in europäischen Museen landeten. Auch das Thema Raubkunst ist mit der Mission verbunden.

Demnach war Mission ein kolonialistisches Projekt.

Zwischen Kolonisation und Mission gibt es historisch betrachtet eine starke Verbindung, insofern lässt sich nicht abstreiten, dass sie Teil eines kolonialistisches Projektes war. Man denke nur daran, wie die Spanier und Portugiesen in Süd- und Mittelamerika vorgegangen sind. Dort war die Missionierung Vorwand, um die Völker auszubeuten und zu beherrschen. Mir geht es aber, wie gesagt, nicht darum, mit dem Finger auf einzelne Personen zu zeigen. Das wäre die leichteste Übung …

Und banal.

Banal und uninteressant. Mich interessiert, diese Geschichten zu teilen und zu schauen, was sie nach wie vor mit unserer Gegenwart machen. In einigen Kirchen gab und gibt es ja noch immer diese Missionsspardosen, in die man Geld einwerfen kann. Darin wirkt ganz offensichtlich das Stereotyp vom Schwarzen Menschen als Nehmender und vom Weißen Menschen als Gebender fort.

Für Ihre Ausstellung „Aerolectics“ bei Kunst Meran haben Sie die Geschichte von drei Mädchen aus dem Sudan ausgegraben, die 1855 von dem Priester Niccolò Olivieri in das Ursulinenkloster in Bruneck gebracht wurden. Wie sind Sie auf diese Geschichte gestoßen?

Ich war im Sommer drei Wochen in Südtirol, um für die Ausstellung zu recherchieren. Dabei bin ich auf einen Text gestoßen, in dem erwähnt wird, dass am 11. Januar 1855 drei Mädchen namens Asue, Gambra und Schiama in Begleitung des italienischen Priesters Niccolò Olivieri im Ursulinenkloster aufgenommen wurden. Dieser Pater hat Zeit seines Lebens etwa 800 Kinder, vor allem Mädchen, auf Märkten in Afrika „freigekauft“, nach Europa gebracht und in Klöstern untergebracht. Gambra und Schiama haben sich den Berichten der Klosterchronik zufolge „scheinbar“ gut in das Klosterleben integriert und sind später Nonnen geworden. Asue hingegen wird als eine unbändige Präsenz beschrieben, die regelmäßige Schreianfälle hat und mit Sachen um sich wirft. Die Nonnen kamen mit ihr überhaupt nicht zurecht, sie fanden ihr Verhalten „unerhört“ und haben den Bischof um Rat gefragt, wie sie mit dem Mädchen umgehen sollen. Dessen Antwort lautete: Als erste Strafe keine heilige Kommunion mehr, wenn das nicht hilft, sollte Gewalt angewendet werden. Ihr wurden dann stundenlang Hände und Füße gebunden, bis sie sich wieder beruhigt hat. Ihr als stürmisch bezeichnetes Verhalten hat mich zu dem Titel der Ausstellung „Aerolectics“ inspiriert. Es braucht einen Sturm, um diese Geschichten hochzuwirbeln.

Belinda Kazeem-Kamiński, Rub, Rock, Earth. Throat Clearing, 2025, Courtesy the artist (Foto: Ivo Corrà)

Asues Schreien – das klingt nach einer schweren Traumatisierung.

Das war es ganz bestimmt. Man muss sich vorstellen, was diese Mädchen bis dahin mitgemacht hatten. Die sind auf einem Markt in Alexandria als Opfer des innerafrikanischen Menschenhandels gelandet, wurden dort gekauft, nach Europa verschifft, hier vorgeführt, bestaunt, angegriffen, weil der Pater jede Gelegenheit nutzte, um Marketing für seine Sache zu machen. Die Mehrheit dieser Mädchen ist entgegen dem ursprünglichen Plan, sie nach der Ausbildung als Missionsschwestern zurückzuschicken, nie wieder nach Afrika gekommen. Sehr viele waren aufgrund ihrer Erfahrungen traumatisiert, gebrechlich, kränklich und häufig sind sie jung gestorben.

Kinder, die auf Märkten ver- und gekauft wurden. Da denkt man an Sklavenmärkte.

Das waren sie ja auch. Es gab ja nicht nur den transatlantischen Sklavenhandel, sondern auch einen auf der Sahararoute in Richtung Europa. Im Falle von Pater Olivieri wurden halt nicht die Personen, sondern die Seelen „freigekauft“. Wobei von frei ja keine Rede sein kann. Dass Kinder ihren Eltern und ihrer gewohnten Umgebung entrissen werden, um umerzogen zu werden, zieht sich ja durch die Geschichte des Christentums und reicht bis in die jüngste Gegenwart. Man denke nur an Australien oder Kanada. Das betrifft ganze Generationen.

War der Plan, diese „freigekauften“ Kinder zurück nach Afrika zu schicken?

Ja. Nach dem Plan von Pater Olivieri sollten sie in Europa zu Missionsschwestern ausgebildet und dann zurück nach Afrika geschickt werden, um ihre eigenen Leute missionieren. Dahinter steckte eine sehr praktische Überlegung. Die Weißen Missionarinnen waren bei der indigenen Bevölkerung in Afrika nicht überall gern gesehen. Offenbar hat man sich mehr davon versprochen, wenn die Afrikaner das selbst machen.

Dass die Mission einen kolonialistischen Aspekt in sich trägt, wird nicht gerne gehört. Wie reagieren die Europäer auf Ihre künstlerischen Forschungen?

Wenn jemand ein Ungleichgewicht anspricht, wird gern zurückgeschlagen nach dem Motto: Das ist ja alles gar nicht wahr, das bildest du dir nur ein. Aber mir geht es nicht darum, jemanden zu beschuldigen. In meiner Recherche interessieren mich einzig und allein diese Kinder und ihre Geschichte. Ich möchte diese Menschen nicht ein weiteres Mal zu einem Objekt machen, sondern versuchen, über sie als Menschen zu sprechen. Ich nenne das reparative Ahninnenpraxis.

Reparative Praxis– heißt das, es muss und es lässt sich etwas reparieren?

Ich nenne es Praxis, weil es ein Tun, ein Prozess, etwas, was nicht abgeschlossen ist. Ich arbeite viel mit dem Begriff Heimsuchung. In dem Wort steckt einerseits etwas Geisterhaftes, etwas Unverarbeitetes, das immer wieder an die Oberfläche dringt, andererseits kann man es auch als Heim suchen verstehen. Etwas oder jemand sucht ein Heim. Das muss kein bestimmter Ort sein, es kann das Nachdenken darüber sein, was diese Geschichten mit unserer Gegenwart zu tun haben und machen. Diesen Prozess muss jede Generation für sich in Angriff nehmen. Denken wir nur an den Nationalsozialismus, über den erneut nachzudenken gerade die aktuelle politische Lage erforderlich macht. Wie spricht die Vergangenheit zur Gegenwart – das meine ich mit Heimsuchung.

Sie sind bildende Künstlerin, aber auch Schriftstellerin ….

Autorin bitte.

Warum?

Bei Schriftstellerinnen denke ich an Leute, die es schaffen, richtige Bücher zu schreiben und nicht nur Texte.

Angefangen haben Sie als Wissenschaftlerin. Wie kam der Sprung in die Kunst?

Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, Kunst als Beruf lag alles andere als nahe und ich habe mich auch kaum damit befasst. Andererseits war mir meine zuerst eingeschlagene akademische Laufbahn zu eng, ihr Weltverständnis zu distanziert. Ich habe dann eine Fotoschule besucht und anschließend an der Akademie für angewandte Kunst in Wien ein Doktoratsstudium im Fach Künstlerische Forschung absolviert. Das Fach bewegt sich zwischen wissenschaftlicher Forschung und künstlerischer Praxis, es gestattet mir das Hin- und Hergehen zwischen Kunst und Wissenschaft. Eine Ausstellung wie die aktuelle hier in Meran ist für mich kein Endergebnis, sondern ein Prozesszustand. In den Tagen des Aufstellungsaufbaus sind mir schon wieder zahlreiche Ideen gekommen, wie ich weitergehen kann.

Gibt es zwischen Recherche und künstlerischer Übersetzung keine Grenzen?

Für mich nicht.

Interview: Heinrich Schwazer

Zur Person

Belinda Kazeem-Kamiński, 1980 in Wien geboren, ist eine österreichische Künstlerin, Autorin und Wissenschaftlerin. Sie arbeitet mit unterschiedlichen Medien wie Fotografie und Video und verfolgt einen interdisziplinären Ansatz, der postkoloniale und schwarze feministische Theorie mit visueller Praxis verbindet. Sie war Doktorandin an der Akademie der bildenden Künste Wien, wo sie lehrte und am Projekt „The Non-Human. The Believer. The Alien – Unsettling Innocence“ arbeitete. In dem von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit einem Doc-Stipendium geförderten Projekt beschäftigte sie sich mit den Auswirkungen von Versklavung und Kolonialismus in Österreich. Für ihre Dissertation Fleshbacks & H(a)untings. Notes on Research, Blackness, Empaths, and the Destruction of the World As We Know It bekam sie 2020/21 den Würdigungspreis der Akademie der bildenden Künste Wien verliehen. Ihre Werke befinden sich in internationalen Sammlungen wie dem mumok | Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, dem Belvedere und dem Centre National des Arts Plastiques. Für ihre künstlerische Praxis wurde sie mit internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Otto Mauer Preis (2023), dem Art X Prize for the African Diaspora (2022) und dem Camera Austria Award (2021).

 

Aerolectics bei Kunst Meran

In ihrer ersten Einzelausstellung in Italien widmet sich Belinda Kazeem-Kamiński der besonderen Rolle des Missionswesens in Südtirol bei der Entstehung kolonialer Beziehungen zwischen Europa und Afrika. Gleichzeitig beleuchtet sie die Geschichten der erzwungenen afrikanischen Diaspora, wobei sie sich vor allem auf den deutschsprachigen Raum konzentriert. Im 19. Jahrhundert reisten europäische Missionare zum Zweck der Evangelisierung auf den afrikanischen Kontinent. Unter dem Vorwand, ihr Seelenheil retten zu wollen, kauften manche dieser Missionare afrikanische Mädchen und Jungen und verschleppten sie nach Europa.

Aerolectics ist das zweite Ausstellungsprojekt des dreijährigen Programms The Invention of Europe: a tricontinental narrative (2024-2027), kuratiert von Lucrezia Cippitelli und Simone Frangi, und reflektiert über die monolithische Idee von Europa und ihre narrative Konstruktion.

Bis 9. Juni bei Kunst Meran. Kunstmeranoarte.org

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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