Der Bibliothekar des Marmors

Installation von Ariel Trettel in der Sparkasse: Vier Zeiten sind in der Brotrahmen-Installation enthalten. Die Rahmen stammen aus einer Zeit etwa 100 Jahre vor unserer Zeit, der Marmor ist 400 Millionen Jahre alt, die künstlerische Kombination beider durch die Hand des Künstlers ist das Jetzt, die weißen Marmorbücher, die darauf warten, beschriftet zu werden, stehen für die Zukunft. (Fotos: Hannes Ochsenreiter)
Das Vorvergangene, das Vergangene, das Gegenwärtige, das Kommende: Ariel Trettel stellt in der Sparkasse am Waltherplatz seine zu Bibliotheken des Marmors verwandelten Brotrahmen aus.
Einen Brotrahmen, auch Brothurte genannt, vermutet man eher in einem Volkskundemuseum (wie es der verstorbene Volkskundler Hans Grießmair in Dietenheim oder Siegrid de Rachewiltz auf der Brunnenburg aufgebaut haben) als in einer Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Jahrhunderte lag diente das Holzgestell zum Aufbewahren von Brotlaiben, meist Roggenbrot – für die bäuerliche Bevölkerung war es buchstäblich der Ort, wo das tägliche Brot während der Wintermonate eingelagert war. Mittlerweile ist das für unsere Großeltern-Generation noch überlebenswichtige Brotgestell komplett aus unserer Welt verschwunden und nach dem Motto „weg mit dem alten Plunder“ auf dem Friedhof vergessener Dinge entsorgt worden. Die Konfrontation mit dem sogenannten Fortschritt endet für das sogenannte Alte immer auf dem Sperrmüll oder bestenfalls im Museum. Dass mit den alten Gerätschaften auch ein immenses Wissen verschwindet – Brot wurde beispielsweise vorwiegend bei Vollmond und bei schönem Wetter gebacken, die „schöne Seite“ des Brotes musste immer nach Süden ausgerichtet sein – gehört zu den unvermeidlichen Kollateralschäden.
Warum also taucht so ein Brotrahmen in einer Ausstellung zeitgenössischer Kunst auf? Aus Nostalgie nach alten Zeiten? Bestimmt nicht. Dafür ist der Künstler Ariel Trettel mit seinen 33 Jahren zu jung.
Der Völser ist ein erstaunlicher Künstler. Er ist nicht nur Künstler, er ist auch Liedermacher, Gründungsmitglied der Bands Shanti Powa und Color Colectif. Im vergangenen Jahr hat er sein erstes Solo Album veröffentlich, ein neues mit dem Titel Marmorstube steckt noch in der Projektphase.
Erstaunlich ist er vor allem deswegen, weil er bemerkenswert eigensinnig ist. Während alle Welt, keineswegs nur die junge, getrieben von den Tech-Giganten, ins Digitale rennt und unsere Realität immer stärker von Virtualität dominiert wird, greift er zu Dingen aus einer Zeit, als die Welt noch ganz und gar analog war. Dass es immer vorwärtsgeht, gehört zu den Grundüberzeugungen der Moderne: Ein Zurück, gar ein Rückzug, ist nicht vorgesehen.
Warum also und vor allem Wie wendet sich Trettel diesem „alten Plunder“ zu? Eine Antwort darauf bekommt man, wenn man das macht, was man bei Kunst immer tun sollte. Genau hinschauen und aus dem, was man sieht, seine Erkenntnisse gewinnen.
Die Brotrahmen sind sein Material, es sind Fundstücke, die er in ganz Südtirol aufgetrieben und gesammelt hat. Sie sind alle ein bisschen unterschiedlich gestaltet, je nach Geschicklichkeit des Bauern, denn die meisten dieser Rahmen wurden wahrscheinlich selbst gebaut.

Ariel Trettel: Man bringe zwei Dinge zusammen, und es ergibt sich etwas Neues
Doch um die mittlerweile fast exotisch wirkende Schönheit dieser Gerätschaften geht es nicht oder nicht nur. Es geht um die Kombination dieser Gestelle mit Marmor, um die Kombination von Holz und Stein nach dem einfachen Prinzip: Man bringe zwei Dinge zusammen, und es ergibt sich etwas Neues.
Statt Brotlaiben stellt der Künstler Bruchstücke aus weißem Laaser Marmor in die Rahmen. Oberflächlich gesehen hat das damit zu tun hat, dass Trettel die Marmorschule in Laas besucht hat, aber dieses biographische Detail sagt wenig aus.
In der Kombination mit den weißen Marmorstücken wirken die Gestelle wie Bücherregale, wie eine Bibliothek, in der Bücher aufbewahrt werden.
Bibliotheken sind Wissensspeicher, sie definieren, was bleibt und damit ist man bei dem Thema, um das es dem Künstler Ariel Trettel wirklich geht: Um Zeit. Der Bezug zur Zeit ist bereits im Titel der Ausstellung angesprochen: „Was bleibt“ – ohne Fragezeichen – evoziert eine Zeitenfolge von: Was war, was ist, was bleibt.
Zeit ist ein riesengroßes philosophisches, alltägliches und auch künstlerisches Thema nicht nur, weil wir alle von einem Gefühl der permanenten Zeitknappheit verfolgt werden. „Was also ist Zeit? Wenn niemand mich fragt, weiß ich‘s, will ich‘s aber einem Fragenden erklären, weiß ich‘s nicht“, vermerkte bereits der Kirchenvater Augustinus 300 n. Chr. über die Kluft zwischen messbarer und gefühlter Wahrnehmung von Zeit.
Künstler*innen haben sich über alle Epochen hinweg mit Zeit auseinandergesetzt, man denke nur an die zahllosen die Vanitas-Motive, die auf die Vergänglichkeit des Gegenwärtigen verweisen, man denke an Tizians Allegorie der drei Lebensalter des Menschen (auch Allegorie der Zeit genannt) man denke – ein zeitgenössisches Beispiel – an den japanischen Konzeptkünstler On Kawara der sich mit seinen sogenannten Date Paintings mit Haut und Haaren dem Thema Zeit verschrieben hat.
Aber wie geht der Künstler Ariel Trettel dieses Riesenthema an? Die Antwort liegt in den zu Bibliotheken des Marmors umgestalteten Brotrahmen. Vier Zeiten sind darin enthalten oder aufbewahrt wie einst das harte Brot der Bauern. Die Brotrahmen stammen aus einer Zeit etwa 100 Jahre vor unserer Zeit, der Marmor ist etwa 400 Millionen Jahre alt und die künstlerische Kombination beider durch die Hand des Künstlers ist das Jetzt. Diese drei Zeiten, die unvorstellbare Zeitlichkeit von 400 Millionen Jahren, die historisch gewordene Zeit der Brotrahmen und das Jetzt fasst der Künstler einleuchtend in einer Installation zusammen. Sie umfasst nicht nur Menschenzeit und menschliche Tätigkeit, sondern auch Erdgeschichte, vergangene und zukünftige, versinnbildlicht in der Marmorstücken, die wie Bücher in Regalen stehen. Die weißen Marmorbücher, die eine Jahrmillionen alte Geschichte in sich tragen und darauf warten, beschriftet zu werden, stehen für die Zukunft.
Bleibt die Frage nach der Kunst. Werden Artefakte der Volkskultur, wie es Brotrahmen sind, zur Kunst, wenn sie in einer Galerie oder einem Museum ausgestellt werden? Die Versuchung, darin ein Verfahren wie Marcel Duchamps Readymades zu sehen, ist groß – aber falsch. Der Begründer der konzeptuellen Kunst erklärte 1913 ein handelsübliches Pissoir zur Kunst (nicht wenige Kunstexpertinnen und –experten sehen darin das einflussreichste Kunstwerk des 20. Jahrhunderts), entscheidendes Merkmal daran ist, dass es sich um einen Gegenstand handelte, dem gegenüber der Künstler gänzlich „unaffiziert“ gewesen sei. Duchamp hätte seine Readymades auch blind auswählen können.
Trettels Wahl der Brotrahmen für seine Installation hingegen ist „hochaffiziert“. Was immer man damit verbindet (Heimat, Wurzeln, Geschichte, Herkunft), es ist ein emotionaler Weltzugang. Vielleicht versucht man es mit Andy Warhol. Der Popart-Künstler, mit dem Trettel auf den ersten Blick wenig bis gar nichts zu tun hat, hat einmal gesagt: „Wir haben keine Zeit, uns der Vergangenheit zu erinnern, und wir haben keine Kraft, uns die Zukunft vorzustellen; wir sind so beschäftigt, dass wir nur eines denken: Jetzt!”
Was Zeit ist, diese Frage wird die Menschheit nie loslassen, aber die Arbeiten des Bibliothekars des Marmors stellen sie in die Sphäre der Kunst, die dieses Nachdenken am tiefsten leisten kann. Selbst an einem Ort wie in einer Bank, wo Zeit Geld ist. (Heinrich Schwazer)
Termin: Die Ausstellung von Ariel Trettel „Was bleibt“ in der Filiale der Sparkasse am Waltherplatz bleibt bis 27. April zugänglich.
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