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Aerolectics

Belinda Kazeem-Kamiński, Rub, Rock, Earth. Throat Clearing, 2025 (Foto Ivo Corrà)

In ihrer ersten Einzelausstellung in Italien untersucht die österreichische Künstlerin und Autorin Belinda Kazeem-Kamiński die Rolle des Südtiroler Missionswesens bei der Entwicklung der europäisch-afrikanischen Kolonialbeziehungen.

Mit einer Reihe von bisher unveröffentlichten und eigens in Auftrag gegebenen Arbeiten konzentriert sich die Ausstellung auf die besondere Rolle, die das Südtiroler Missionswesen bei der Entstehung kolonialer Beziehungen zwischen Europa und Afrika spielte. Gleichzeitig beleuchtet sie die Geschichten der erzwungenen afrikanischen Diaspora, insbesondere im deutschsprachigen Raum. Im 19. Jahrhundert reisten europäische Missionar*innen zum Zweck der Evangelisierung auf den afrikanischen Kontinent. Unter dem Vorwand, ihr Seelenheil retten zu wollen, kauften manche dieser Missionar*innen afrikanische Mädchen und Jungen und verschleppten sie nach Europa.
Inspiriert wurde die künstlerische Recherche zu Aerolectics durch die Lebensgeschichte des Mädchens Asue*, auf die die Künstlerin im Rahmen ihrer Recherchen stieß. Asue* wurde am 11. Januar 1855 zusammen mit zwei anderen afrikanischen Mädchen, Gambra* und Schiama*, von Pater Niccolò Olivieri unfreiwillig in das Ursulinenkloster Bruneck gebracht. Während sich die anderen Mädchen dem Klosterleben scheinbar anpassten, empfanden die Klosterschwestern Asue*‘s Verhalten als impulsiv und ungehörig. In den Klosterakten wird sie mit einem Sturm verglichen, der auch durch physische Gewalt nicht zu bändigen ist.
Einen Sturm entfesselt Belinda Kazeem-Kamiński auch in den Räumen von Kunst Meran, indem sie Bezüge zur Yoruba-Kosmologie, den Elementen – Erde, Wasser, Feuer und Luft – und den Geschichten der Mädchen herstellt. Aerolectis bringt mit ihrer Symbolkraft die ehemals verborgenen Geschichten afrikanischer Kinder ans Licht, von denen jede Spur verloren gegangen ist. Die Ausstellung zeigt die Verbindungen zwischen dem Missionssystem und dem Kolonialismus auf und lädt das Publikum ein, darüber nachzudenken, welche Geschichten tatsächlich aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht wurden.

 

Belinda Kazeem-Kamiński, Untitled (Lash. Linger. LoadNkisi), 2025, Foto Ivo Corrà

Durch ihre multimediale Arbeitsweise gestaltet die Künstlerin die Räume des Kunsthauses neu – geprägt von Gegensätzen wie Leere und Fülle, Stimmen und Stille sowie Objekten, Erzählungen, Klängen und Bildern zeichnet sie Erfahrungen des Schwarzseins in Europa durch den weißen Blick nach und untersucht diese. Darüber hinaus entwickelt sie Praktiken der reparativen Ahn*innenarbeit, um die Existenz von Asue* und den anderen Mädchen zu würdigen, ohne sie zu bloßen Forschungsobjekten zu machen. Belinda Kazeem-Kamińskis künstlerische Praxis speist sich aus dem Denken Schwarzer feministischer Denker*innen und Künstler*innen und setzt sich auf vielfältige Weise um. Durch eine Vielzahl visueller Sprachen – von Video und Fotografie bis Performance und Text – schichtet und verwebt sie vielstimmige Erzählungen der afrikanischen Diaspora. Im Fokus ihrer Melange aus Dokumentation und Fiktion steht die Präsenz Schwarzer Menschen, die in der Geschichtsschreibung, in der physischen Landschaft und im öffentlichen Raum Europas oft unbemerkt geblieben sind.

 

Mit Aerolectics greift die Künstlerin auch auf das erste Kapitel der Ausstellungsreihe The Invention of Europe und die Metapher der Insubrischen Linie, der Nahtstelle zwischen der afrikanischen und der europäischen Kontinentalplatte, zurück und evoziert geologische und meteorologische Bilder. Die Symbole des Sturms und der Tektonik stehen für die fortwährende Reibung zwischen Ideologien, Geschichtsschreibung und religiös geprägten Moralvorstellungen. 
Dabei stehen die biografischen Erfahrungen von Asue* im Zentrum der Poesie, die sich über die drei Stockwerke des Kunsthauses erstreckt. Der Titel der Ausstellung, Aerolectics, ist inspiriert vom Konzept der „Tidalectics“ des barbadischen Denkers und Dichters Kamau Brathwait – einer zyklischen, wellenförmigen Denkweise. Die Künstlerin nutzt diesen Ansatz, um die Geschichte afrikanischer Kinder zu erforschen, die zwangsmissioniert wurden.
Zur Auseinandersetzung mit Geschichte und Geografie lädt die Installation Vermessung. „Von der Landschaft aus“ (2025) im ersten Obergeschoss ein. Mit Nadeln durchbohrte Fragmente historischer Karten des Habsburger-Reiches, heutigen Südtirols und Italiens, zeigen die Orte, an denen die afrikanischen Mädchen von Niccolò Olivieri und seinem Netzwerk von Vermittler*innen verschleppt wurden. Anstatt die Dokumente aus den Klosterarchiven direkt zu präsentieren, wendet sich Kazeem-Kamiński der Landschaft als aktiver Zeugin zu. 
Dieses Element findet sich auch in der Videoinstallation Rub, Rock, Earth. Throat Clearing (2025), die die Betrachter*innen in die Geschichte von Asue* hineinzieht, die am 11. Januar 1855 gemeinsam mit Gambra* und Schiama* im Ursulinenkloster in Bruneck, Südtirol, ankam. Dabei wendet sich die Künstlerin den Alpen als Metapher für die materialisierte Zeit zu – eine Anhäufung von Ge/schichten, in der Sedimente die Erde und die Gesellschaft formen.

 

Belinda Kazeem-Kamiński, Dancing Mask, 2025 Foto Ivo Corrà

Im zweiten Stockwerk wird das Publikum mit dem Film Nursery Rhymes. (Holy) Water (2025) empfangen, der  sich auf die Zwangstaufe der drei afrikanischer Mädchen im Jahr 1855 in Bruneck, Südtirol bezieht. In einer als göttliche Mission und vermeintliche moralische Erlösung getarnten Inszenierung kolonialer Macht wurden sie gezwungen, ihre ursprünglichen Namen zu ändern und wurden damit symbolisch ihrer Herkunft entledigt: Gambra* wurde zu Johanna, Asue* zu Angela und Schiama* zu Aloisia. 

Weiter geht es mit der Installation Untitled (Prototype Nkisi/Repurposed Savings Box) (2025), die aus einer nicht transparenten Glasvitrine und einem darin ausgestellten Objekt besteht, dessen Form und Funktion durch den Eingriff der Künstlerin verändert wurde. Ursprünglich eine Missions-Spardose, wie sie früher in katholischen Kirchen zu finden war eine kniende schwarze Figur, die nach Einwurf einer Münze unterwürfig nickt – nun zweckentfremdet und in eine Nkisi-Figur umgewandelt. Nkisi stammen aus den spirituellen Traditionen des Kongo und sind mit Nägeln und scharfen Klingen durchbohrte, kraftvolle Objekte, die Schutz, Heilung und Gerechtigkeit herbeiführen. Das Werk ist das Ergebnis einer Revision kolonialer Bilder und der rassialisierten Choreografie des Gebens und Nehmens, als Teil der stereotypen Erzählungen über Afrika, wie die der afrikanischen Hilflosigkeit und der europäischen Güte. Die Schwierigkeit zu sehen, was sich hinter dem Glas befindet, ist eine Einladung, über die bestehenden nicht neutralen Sehgewohnheiten nachzudenken, die von sedimentiertem Wissen und verinnerlichten Geschichten geprägt sind.
Diese Figuren kehren in Untitled (Lash, Linger, Load/Nkisi) (2025) wieder. Belinda Kazeem-Kamiński hat in Zusammenarbeit mit Masimba Hwati, einem in Wien lebenden multidisziplinären Künstler, Nkisi aus Keramik gefertigt. Im Gegensatz zu Holz, das in der Kongo-Skulptur verwendet wird, wird Keramik durch Erde, Wasser, Feuer und Luft geformt. Ein Material, sowohl zerbrechlich als auch stark, anfällig für Brüche und doch in der Lage, Jahrhunderte zu überdauern. Diese Materialverschiebung macht die Transformationen afrikanischer Technologien und spiritueller Praktiken in der Diaspora sichtbar.

 

Die dritte Etage beginnt mit dem Video Ọya! Fire (2025), das Asues* stürmische Wut zeigt. Durch Ọya, der Yoruba-Orisha der Stürme und der Verwandlung, greift die Künstlerin die Geschichte von Asue* wieder auf und verbindet ihre Wut mit der ungezähmten Macht von Ọya. Während ihre Ausbrüche für die Nonnen des Klosters unkontrollierbar waren, inszeniert Ọya! Fire die Wut als radikalen Wandel und transformativen Akt, der Asue* mit der Energie ihrer Ahn*innen verbindet.
Am Ende des Ausstellungsrundganges lädt Belinda Kazeem-Kamiński die Besucher*innen in den Backstage-Bereich ihrer Ausstellung ein. Bücher, Texte, eine kuratierte Playlist und die Dokumentation von Archivmaterial eröffnen den Kontext hinter den ausgestellten Werken und offenbaren die vielschichtigen Prozesse des Ausgrabens, Untersuchens, Interpretierens und Verweisens. Collocation No.1 / Bruneck (2025) ist ein Arbeitsraum – ein Ort zum Verweilen, zum Lesen, zum Zuhören und zur Auseinandersetzung mit dem Nachhallen der Ausstellung. 

Belinda Kazeem-Kamiński (Foto: Lea Sonderegger)

Belinda Kazeem-Kamińskis Werke wurden in führenden Institutionen ausgestellt, darunter die Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig (2024), Phileas (2024), Camera Austria Graz (2022) und die Kunsthalle Wien (2021). Die Künstlerin hat ebenfalls an Gruppenausstellungen teilgenommen: IMMA Irish Museum of Modern Art (2024), Liverpool Biennale (2023), Art X Lagos (2023), Les Rencontres d’Arles (2022) und Museum der Moderne Salzburg (2021). Belinda Kazeem-Kamińskis künstlerische Praxis wurde mit internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter der Otto Mauer Preis (2023), der Art X Prize for the African Diaspora (2022) und der Camera Austria Award (2021). Ihre Werke befinden sich in internationalen Sammlungen wie dem mumok | Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, dem Belvedere und dem Centre National des Arts Plastiques.

 

Aerolectics ist das zweite Ausstellungsprojekt des dreijährigen Kulturprogramms The Invention of Europe: a tricontinental narrative (2024-2027), kuratiert von Lucrezia Cippitelli und Simone Frangi, und reflektiert über die monolithische Idee von Europa und ihre narrative Konstruktion.
Die Ausstellung wird am 15. März eröffnet und ist  bis zum 9. Juni 2025 im Kunsthaus Meran zu sehen.
Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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