Du befindest dich hier: Home » Kultur » Zwangsarbeit in der Landwirtschaft

Zwangsarbeit in der Landwirtschaft

Historiker Rolf Bauer: Insgesamt sind in Italiens Landwirtschaft ca. 1 Million Menschen beschäftigt. Fast die Hälfte davon sind Migrant*innen.

Weltweit ist rund eine Milliarde Menschen in der Landwirtschaft beschäftigt und gerade der Agrarsektor ist übermäßig von Zwangsarbeit geprägt. Warum das so ist, darüber sprach der Wiener Historiker Rolf Bauer im Naturmuseum.

 Tageszeitung: Herr Bauer, warum gibt es global gesprochen gerade in der Landwirtschaft so viel Zwangsarbeit?

Rolf Bauer: Zum einen, weil der Faktor Arbeit in der Landwirtschaft nach wie vor sehr wichtig ist. Gewisse Arbeitsschritte, wie die Ernte vieler Feldfrüchte, müssen nach wie vor manuell erledigt werden. Wer in einem globalen Markt konkurrenzfähig bleiben und Profite einfahren will, muss die Kosten für Arbeit so niedrig wie möglich halten. Ein landwirtschaftlicher Unternehmer hat also gewisse Anreize, die Arbeitskräfte auszubeuten. Zum anderen ist die Landwirtschaft stark von Saisonalität geprägt. Arbeitskräfte werden oft nur für eine relativ kurze Periode gebraucht, etwa zur Ernte. Von den Arbeiter*innen wird verlangt, dass sie den jeweiligen Ernten quasi hinterherfahren. Der Druck auf die Kosten für Arbeit einerseits und der hohe Grad an Mobilität andererseits führt oft dazu, dass landwirtschaftliche Arbeiter*innen in Zwangsverhältnisse rutschen.

Können Sie uns aktuelle Beispiele von Zwangsarbeit nennen?

Die Liste ist lange und wir müssen nicht besonders weit schauen. In die Gewächshäuser in Südspanien zum Beispiel. Die Gemüse- und Obstproduktion in dieser Region ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen. Der wirtschaftliche Erfolg beruht einerseits auf dem Einsatz von Gewächshäusern aus Plastik, in denen das ganze Jahr über hohe Temperaturen und hohe Luftfeuchtigkeit herrscht. Auf der anderen Seite auf dem Einsatz billiger Arbeitskräfte, meist Migrant*innen aus Afrika und zunehmend auch Osteuropa. Viele davon sind nicht registriert, ihr Arbeitsverhältnis nicht formell, das heißt die Löhne sind deutlich unter dem Mindestlohn oder werden manchmal gar nicht ausbezahlt. Um Almería haben sich in den letzten Jahren ca. 100 informelle Siedlungen gebildet, in denen insgesamt etwa 10.000 Arbeiter*innen und ihre Familien leben. Das sind Slums ohne fließendes Wasser oder sanitären Einrichtungen. Druck und Zwang kann hier vor allem über den vulnerablen Status dieser Migrant*innen erzeugt werden.

In Italien kommen immer wieder Fälle von krasser Ausbeutung vor allem von migrantischen Arbeitern in der Landwirtschaft ans Licht.

Die Situation in Italien ist besonders krass und das in eigentlich allen Regionen des Landes, von der Toskana bis nach Sizilien. Insgesamt sind in Italiens Landwirtschaft ca. 1 Million Menschen beschäftigt. Fast die Hälfte davon sind Migrant*innen, größtenteils von außerhalb der EU. Etwa 100.000 kommen aus EU-Ländern, vor allem Osteuropa. Die größten Probleme sind Unterbezahlung und die Lebensbedingungen. Die Tageslöhne liegen zwischen 20 und 40 Euro, davon wird meist noch etwas für Transport, Wasser und Unterkunft abgezogen. Auch hier gleichen die Unterkünfte oft Slums. Die Arbeiter*innen erfahren oft physische und psychische Gewalt, vor allem Frauen auch sexuelle Gewalt. Das hat aber nicht unbedingt was mit Italien per se zu tun, sondern mit der Tatsache, dass Italien viel Obst und Gemüse produziert, also jene landwirtschaftlichen Produkte, die manuell geerntet werden. Dort wo zum Beispiel in der österreichischen Landwirtschaft viel händisch geerntet wird, etwa im Eferdinger Becken oder im Marchfeld, ist die Situation nicht viel besser. Die Größenordnung ist halt eine andere.

Nimmt Zwangsarbeit mit der Industrialisierung der Landwirtschaft zu oder ab?

Quantifizieren kann ich das leider nicht. Es ist aber auf jeden Fall so, dass Zwangsarbeit trotz Industrialisierung nach wie vor eine große Rolle in der globalen Landwirtschaft spielt.

Liegt es daran, dass die Gesetze zu lasch sind und die Staaten zu wenig kontrollieren?

Nein, Staaten spielen oft eine proaktive Rolle, vor allem wenn es um die Ausbeutung von Migrant*innen geht. In Malaysia ist der Staat zum Beispiel aktiv an der Rekrutierung von Arbeiter*innen für den privaten Palmölsektor beteiligt und hat eigene Einwanderungsgesetze für Arbeiter*innen in diesem Sektor geschaffen. Diese kommen meist aus dem benachbarten Indonesien und bekommen ein spezielles Arbeitsvisum, dass ihnen erlaubt für 3 Jahre in diesem Sektor zu arbeiten. Den Arbeitgeber dürfen sie allerdings nicht wechseln, was sie wiederum extrem Abhängig von diesen macht. Außerdem sind sie in vielen Bereichen den heimischen Arbeiter*innen schlechter gestellt, etwa wenn es um die Gründung von Gewerkschaften geht. Generell dürfen sie ausschließlich Niedriglohnjobs annehmen. Das staatliche Verbot von Familienzusammenführungen soll außerdem verhindern, dass sich die Arbeitsmigrant*innen dauerhaft ansiedeln und etwa bei einem Rückgang der Palmölproduktion sofort wieder in das Herkunftsland geschickt werden können.

Wer profitiert?

Vor allem Agrarunternehmen.

Sind Zwangsarbeiter die größte Gruppe von Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten?

Nein, die mit Abstand größte Gruppe aller in der globalen Landwirtschaft Beschäftigten sind kleinbäuerliche Haushalte im Globalen Süden. Sie machen etwa 95 Prozent aus.

Was versteht man unter Ernährungssicherheit? Was unter Ernährungssouveränität?

Ernährungssicherheit bedeutet schlicht, dass Menschen Zugang zu ausreichend Nahrungsmittel haben. Es spielt dabei keine Rolle woher die Nahrung kommt oder unter welchen Bedingungen sie produziert wird. Der Begriff Ernährungssouveränität geht hier weiter. Hier geht es um das Recht auf gesunde Nahrungsmittel, die lokal, ökologisch und nachhaltig hergestellt werden. Den Produzent*innen wird hier eine bedeutende Rolle zugeschrieben. Sie sollen selbstbestimmt lokalisierte Nahrungssysteme schaffen und so auch für eine Unabhängigkeit vom globalen Agrobusiness sorgen, also eine Souveränität über die eigene Ernährung erreichen.

Schließen sich Ernährungssicherheit und kleinstrukturierte Landwirtschaft aus?

Nicht zwingend. Aber im Namen von Ernährungssicherheit lässt sich die Landwirtschaft leicht in Richtung Agroindustrie umstellen. Große Unternehmen, so die Argumentation, könnten effizienter produzieren und so für mehr Ernährungssicherheit sorgen.

Welche Rolle spielen die Bauern in dieser politischen Bewegung?

Einerseits sind es vor allem Kleinbauern und -bäuerinnen, die sich in ihrem Wunsch nach mehr Souveränität gegen die große Agroindustrie stellen. Andererseits werden sie auch als mögliche Lösung für jene Probleme gesehen, die eben diese Industrie bisher verursacht hat: politische, ökonomische aber auch ökologischer.

Welche Rolle spielen der Klimawandel und die Ökologie?

Kleinbauern, die für einen lokalen Nahrungsmittelmarkt produzieren, könnten ökologischer und nachhaltiger produzieren. Nicht nur weil die Transportwege deutlich geringer sind.

Sie untersuchen historisch den bäuerlichen Widerstand, ihren Überlebenskampf. Auf welche Widerstandsformen sind Sie da gestoßen?

Mehr als der „bäuerliche Überlebenskampf“ interessiert mich die Tatsache, dass Kleinbauern – und bäuerinnen trotz einer zunehmend industrialisierten und kapitalintensiven Landwirtschaft weiterhin bestehen und global nach wie vor eine bedeutende Rolle spielen. Das Ende des Kleinbauern, der von der industrialisierten Landwirtschaft gefressen und als Landproletarier wieder ausgespuckt wird, wurde schon oft prophezeit. Aber der Kleinbauer erweist sich als erstaunlich widerstandsfähig.

Wenn wir über historischen Widerstand im Bereich der Landwirtschaft sprechen, sollten die Sklavenaufstände in der Karibik der frühen Neuzeit nicht unerwähnt bleiben. Am bedeutendsten natürlich die Rebellionen auf Jamaika und Haiti in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Letztere führte sogar zur Unabhängigkeit der Kolonialmacht Frankreich. Neben organisierten Rebellionen gab es auch alltäglichere und subtilere Formen des Widerstands, etwa das Verbrennen von Feldern, das Vergiften von Aufsehern oder das Sabotieren von Mühlen.

Was sind heutige Widerstandsformen?

Da gibt es viele. In Indien haben in den Jahren 2020 und 2021 tausende Kleinbauern protestiert und vor den Toren der Hauptstadt Delhi campiert. Es ging dabei um die drohende Liberalisierung der Landwirtschaft in Indien, die ein Überleben der Kleinbauern weiter erschwert hätte. Die indischen Bauern sind ohnehin schon von enormer Verschuldung und hohen Suizidraten geplagt. Ich würde auch die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung im Süden Mexikos in erster Linie als indigenen bäuerlichen Widerstand gegen Agrarkapitalismus bezeichnen. Global gesehen ist La Via Campesina von Bedeutung – ein Bündnis von Kleinbauern und Landarbeitern, das etwa auch im Kontext der Forderung um mehr Ernährungssouveränität sehr wichtig war.

Gibt es überhaupt noch eine Chance gegen die kapitalisierte Ernährungsproduktion anzukommen? Gegen sie zu bestehen?

Kapitalismus im Sinne einer Wirtschafts- und Gesellschaftsform, in der Angebot und Nachfrage vor allem über den freien Markt geregelt werden, ist nicht zwingend und in allen Fällen das Problem. Die Gemüsebauern, die ihre Produkte bei mir um die Ecke am Meidlinger Markt verkaufen, müssen sich auf einem freien, wenn auch überschaubarem, Markt behaupten. Das funktioniert, soweit ich das beurteilen kann, ganz gut. Viele große Agrarunternehmen, oder Unternehmen generell, agieren nicht auf einem freien Markt. Im Gegenteil, sie versuchen ihre Position am Markt mit allen Mitteln zu schützen, etwa durch Einflussnahme auf Gesetzgebung, Patente, Förderungen, etc. Das hat mit freier Marktwirtschaft sehr wenig zu tun. Ich möchte damit nicht sagen, dass eine Liberalisierung der Märkte immer ein Vorteil ist – nein. Für die eben genannten Bauern in Indien wäre das womöglich der Todesstoß. Gleichzeitig denke ich, dass man leicht übersieht, dass viele große Agrarunternehmer von protektionistischen Maßnahmen und Förderungen profitieren. Wir sollten uns einfach gut überlegen, was wir schützen und wen wir fördern wollen.

Interview: Heinrich Schwazer

 

Zur Person

Rolf Bauer, geb. 1984, ist Wirtschafts- und Sozialhistoriker an der Universität Wien. Er forscht und lehrt zu Arbeitsverhältnissen in der Landwirtschaft sowie der Geschichte psychoaktiver Substanzen. Am 1. März 2025 beginnt er ein neues Forschungsprojekt an der Universität für Bodenkultur Wien. In dem Projekt untersucht Bauer die Ursachen von Hungersnöten im kolonialen Indien.

Am 20. Februar sprach er im Rahmen der Tagung „Oben bleiben. Landwirtschaft und Gesellschaft“, die das Zentrum für Regionalgeschichte, das Naturmuseum Südtirol, die Freie Universität Bozen, Geschichte und Region und der Ethnologische Verein Südtirol veranstalten, im Naturmuseum über „Sklaven, Bauern, Migranten. Arbeit in der globalen Landwirtschaft von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart“.

 

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (0)

Klicke auf den Button um die Kommentare anzuzeigen.

Kommentare anzeigen

Kommentar abgeben

Du musst dich EINLOGGEN um einen Kommentar abzugeben.

2025 ® © Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH/Srl Impressum | Privacy Policy | Netiquette & Nutzerbedingungen | AGB | Privacy-Einstellungen

Nach oben scrollen