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Wege aus dem Chaos

 

Berta Pircher ist in einem Messie-Haushalt aufgewachsen. Vor Kurzem hat die 38-jährige Lananerin eine Selbsthilfegruppe gegründet, die auf Anhieb großen Zuspruch findet.

von Karin Gamper

Eine junge Frau mit einem offenen, sonnigen Wesen und einem großen Bedürfnis nach Ordnung. Das ist Berta Pircher aus Lana, welche vor Kurzem die erste Südtiroler Messie-Selbsthilfegruppe aus der Taufe gehoben hat.

Dies nicht ohne Grund: Die 38-Jährige ist selbst in einem Messie-Haushalt aufgewachsen. Sie weiß, wie es sich anfühlt, wenn sich Zimmer, Flur und Badezimmer schier endlos mit Gegenständen aller Art füllen und immer mehr Lebensraum wegnehmen.

Der Begriff „Messie“ wird vom englischen Wort „mess“ abgeleitet, was soviel wie „Durcheinander“ oder „Chaos“ bedeutet. Als „Messies“ werden deshalb gemeinhin Menschen bezeichnet, welche zwanghaft Gegenstände sammeln und horten: Kleider, Strümpfe, Bettwäsche, Zeitungen, alte Blumentöpfe, Kinderspielzeug – alles wird aufbewahrt, auch wenn es immer mehr und irgendwann auch zu viel wird. Menschen mit Messie-Syndrom sammeln all diese Gegenstände in wachsenden Mengen und können sie nicht mehr loslassen. Dieses Syndrom ist nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern vor allem auch für die Mitbewohner und Angehörigen eine große Belastung, die jedoch von den gängigen Anlauf- und Beratungsstellen meist noch nicht ausreichend wahrgenommen wird.

Dabei sind in Südtirol mehr Menschen vom Messie-Syndrom betroffen, als man annehmen möchte. Martin Fronthaler, Leiter des Therapiezentrums Bad Bachgart, geht hierzulande von bis zu 20.000 Betroffenen aus. Es sind Frauen und Männer aus allen sozialen Schichten. Nur eine Minderheit davon lebt allerdings – entgegen dem Klischee – zwischen Essensresten, Schmutz und Müll. Meistens sieht man Messies nicht an, welches Chaos bei ihnen zu Hause herrscht. Nach außen hin können sie sogar gut funktionieren und im Beruf erfolgreich sein.

Heute ist Berta Pircher erfolgreich als Aufräum-Coach tätig. Zu dieser Beschäftigung hat sie aus ihren biografischen Erfahrungen heraus gefunden. Sie hält regelmäßig gut besuchte Kurse und Workhops zur Aufräumtechnik nach der Methode von Marie Kondō.

Als Kind war sie jedoch mit ihrem Heranwachsen in einem Messie-Haushalt  überfordert. Niemand konnte ihr erklären, warum ihr Zuhause anders war als in anderen Familien. „Es war ein erdrückendes Gefühl im Alltag und beschämend, etwa wenn Freundinnen zu Besuch waren“, erzählt sie. „Natürlich gab es Versuche, Ordnung ins Chaos zu bringen“, blickt sie zurück. Sie und ihre Geschwister hätten immer wieder aufgeräumt und versucht, das Gesammelte zu sortieren und wegzuschmeißen. „Das hat aber alles nur noch schlimmer gemacht“, betont sie. Auch sei das unkontrollierbare Horten von Dingen seitens eines Elternteils immer wieder innerhalb der Familie thematisiert worden. Genutzt habe dies wenig und es habe deshalb häufig Konflikte gegeben.

Für Berta Pircher war dies eine Zeit, die von Verzweiflung und Ohnmacht geprägt war und in der sie traumatischem Stress ausgesetzt war. An den Folgen arbeitet sie noch heute.

Gleichzeitig hat die junge Frau früh gelernt, mit widrigen Umständen umzugehen. Sie hat sich mit der Problematik auseinandergesetzt und schließlich beschlossen, diesen Aufarbeitungsprozess nun gemeinsam im Austausch mit anderen fortzuführen. Deshalb hat sie vor Kurzem eine Selbsthilfegruppe für Betroffene und Angehörige gegründet. Der große Zuspruch, den diese sofort gefunden hat, zeigt, dass Berta Pircher mit ihren Erfahrungen nicht alleine ist.

Es haben sich sehr viele Interessierte gemeldet. Zum Gründungstreffen sind schließlich zehn Personen gekommen, für das nächste Treffen haben sich 15 Personen angemeldet. Es ist eine bunte Mischung aus Betroffenen, ihren Angehörigen oder von Personen, die im Bekanntenkreis Betroffene kennen. Personen, die aus dem Raum Bozen, Meran und Umgebung und dem Vinschgau kommen. „Es hat sich noch eine Reihe weiterer Personen gemeldet, die aber von weiter her kommen“, berichtet Pircher. Sollten sich Gruppenleiter finden, könnten deshalb auch in anderen Landesteilen Selbsthilfegruppen aufgebaut werden. Der Dachverband für Soziales und Gesundheit, welcher auch bereits Unterstützung in der Lananer Selbsthilfegruppe gibt, würde auch diese begleiten.

Wie ist das erste Treffen der Lananer Selbsthilfegruppe gelaufen? Berta Pircher: „Die Atmosphäre war entspannt und es war sehr schnell eine Vertrautheit da, weil uns dieses gemeinsame Thema verbindet.“ Pircher freut sich, wenn in der Bevölkerung das Bewusstsein für diese enorme Belastung wächst und wenn Menschen den Mut und die Kraft finden, sich Hilfe zu suchen. Sie betont: „Zum Glück gibt es den Dachverband für Soziales und Gesundheit, sowie viele weitere psychologische Dienste“.

Interessierte können sich weiterhin melden. Diskretion wird zugesichert. Informationen sind erhältlich unter Tel. 0471 1888110 oder [email protected] oder Tel. 333 3837555, bzw. E-Mail an [email protected].

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