„Es gibt keine Pflicht zu leben“
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Martin M. Lintner
Weder kriminalisieren noch legalisieren. Moraltheologe und Hochschul-Dekan Martin Lintner zur umstrittenen Thematik des assistierten Suizides und inwiefern das Toskana-Gesetz bezeichnend für den Zeitgeist ist.
TAGESZEITUNG: Herr Lintner, die Toskana verabschiedet das erste Sterbe-Hilfe Gesetz Italiens. Der Entscheid ist nicht unumstritten. Wie weit sollte ein Mensch über sein Leben entscheiden dürfen?
Martin Lintner: Sterbehilfe beinhaltet auch die Tötung auf Verlangen, das heißt, dass jemand durch die Hand einer dritten Person getötet wird. Hier geht es jedoch um den medikamentös assistierten Suizid, das heißt, dass jemand sich selbst das Leben nimmt, dabei aber von einer dritten Person durch die Vorbereitung des tödlichen Präparats unterstützt wird und Suizid begeht. Die Entscheidung zum Suizid ist in der Regel eine tragische. Meistens bedeutet sie nicht, dass jemand das Leben als solches ablehnt, sondern dass das Leben für jemanden unerträglich geworden ist aufgrund von Belastungen, Mangel an Perspektiven oder aufgrund von Krankheit und Schmerzen. Ich glaube zwar, dass es keine Pflicht gibt zu leben, aber daraus würde ich kein Recht auf Beihilfe zu Suizid ableiten. Ich bin mir bewusst, dass es konkrete Einzelschicksale gibt, die schwierig und tragisch sind. Daher finde ich es richtig, in solchen Situationen Beihilfe zu Suizid nicht zu kriminalisieren und von einer Bestrafung abzusehen. Umgekehrt halte ich die grundsätzliche Legalisierung aber für falsch.
Besonders aus religiösen Kreisen wird Kritik laut. So nannte Kardinal Lojudice es „objektiv nicht richtig“. Ist assistierter Suizid aus religiöser Sicht unmoralisch?
Kardinal Lojudice, der Vorsitzende der Bischofskonferenz in der Toskana, bringt damit die Position der katholischen Kirche zum Ausdruck. Diese geht vom Argument aus, dass das Leben einen grundlegenden Wert darstellt, auf den andere Werte erst aufbauen, zum Beispiel die freie Selbstbestimmung. Daher sei es aus ethischer Sicht in Frage zu stellen, wenn sich jemand durch Suizid das Leben nimmt, das heißt, wenn jemand die Verwirklichung seiner Selbstbestimmung darin sieht, die Möglichkeitsbedingung seiner Selbstbestimmung zu zerstören. Ich bin mir bewusst, dass dieses philosophische Argument der schwierigen Lebenssituation von schwerkranken Menschen oft nur schwer gerecht wird. Das religiöse Argument, dass Gott der Urheber des Lebens ist und dass es nur ihm obliegt, den Todeszeitpunkt zu bestimmen, wird heute kaum mehr verwendet. Die Kirche argumentiert, dass das Leben nicht um jeden Preis erhalten werden muss und dass deshalb lebenserhaltende Maßnahme auch abgebrochen werden dürfen, wenn die Zielsetzung einer Therapie nicht mehr erreicht wird. Davon zu unterschieden ist aber die absichtliche Tötung, sei es durch die eigene oder durch eine fremde Hand. Keine Lebenserhaltung um jeden Preis, aber auch keine absichtliche Tötung, so lässt sich die Position der Kirche zusammenfassen.
Ist die Debatte um Sterbehilfe reaktionär geprägt oder bestehen berechtigte Einwände?
Die Entwicklung in den Beneluxstaaten, wo seit circa 25 Jahren sowohl der assistierte Suizid als auch Tötung auf Verlangen gesetzlich erlaubt sind, zeigt, dass zunächst strenge Eingrenzungen mehr und mehr aufgeweicht worden sind und mittlerweile auch von Jahr zu Jahr mehr Menschen getötet werden, die keinen Sterbewunsch geäußert haben. Das Urteil des italienischen Kassationsgerichtshofes 242/2019, auf welches das Regionalgesetz in der Toskana fußt, grenzt den Zugang zum assistierten Suizid ein auf Menschen, die an einer irreversiblen Krankheit leiden, die physische oder psychische Leiden verursacht, die sie als unerträglich empfinden, und die durch lebenserhaltende Maßnahmen am Leben erhalten werden. In den Beneluxstaaten gab es ursprünglich dieselben Einschränkungen, sie wurden dann aber sukzessive aufgeweicht. Es wurde argumentiert, dass der Staat über die Motive, wieso jemand nicht mehr leben möchte, nicht zu befinden hat. Er müsse nur garantieren, dass niemand gegen den eigenen Willen getötet wird und dass jemand in der Lage ist, eine freie und bewusste Entscheidung zu treffen. In der Praxis werden aber auch diese Bedingungen nicht mehr garantiert.
Ist Sterbehilfe/assistierter Suizid grundsätzlich eine Möglichkeit ein würdevolles Sterben zu ermöglichen?
Das hängt davon ab, was Sie unter „würdevoll“ verstehen. Ist es würdevoller, einem Menschen in seiner Not und in seinem Leid beizustehen, ihm nahe zu sein und ihm das Leben so erträglich wie möglich zu machen, auch durch schmerzstillende und palliative Unterstützung, oder ihn zu unterstützen, sich das Leben zu nehmen?
In welchen Fällen könnte es als „angemessen“ gelten?
Wie zuvor bereits gesagt, gibt es schwierige Einzelschicksale, bei denen ich rein menschlich und emotional verstehe, dass ein Mensch sagt: So möchte ich nicht mehr leben. Straffreiheit unter den genannten Bedingungen halte ich dann für angemessen, nicht jedoch die grundsätzliche Legalisierung. Das bringt Menschen auch unter Zugzwang, wenn sie ansonsten Angst haben, nur mehr zur Last zu fallen, oder wenn man sie spüren lässt, dass sie für das Gesundheitssystem eine finanzielle Belastung darstellen.
Sehen Sie in diesem Regionalgesetz der Toskana das Potential eines nationalen Anstoßes?
Nach dem Urteil des Kassationsgerichtshofes im Jahr 2019 braucht es Rechtssicherheit. Wenn der Kassationsgerichtshof befunden hat, dass das generelle Verbot der Beihilfe zum Suizid verfassungswidrig ist, dann muss das Thema gesetzlich geregelt werden. Die Toskana hat in diesem Sinn nur gemacht, was der notwendige Schritt aus einer verfassungsgerichtlichen Erkenntnis ist, unabhängig davon, ob man es teilt oder nicht. Eigentlich wäre die Regierung in Rom am Zug, aber sie macht hier ihre Hausaufgaben nicht.
In der Schweiz ist Sterbehilfe eine legitime Option. Kann man sich so etwas für Italien in Zukunft vorstellen?
Die Entwicklung nicht nur in Italien, sondern in vielen anderen europäischen Ländern läuft darauf hinaus.
Interview: Christian Frank
Kommentare (33)
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