„Eine riesige Schande“
Der ehemalige ICC-Richter Cuno Tarfusser wirft Italien in Zusammenhang mit dem Fall Al Masri einen schwerwiegenden Vertragsbruch vor.
TAGESZEITUNG: Herr Tarfusser, der Fall Al Masri sorgt weiterhin für Schlagzeilen. Jetzt ermittelt der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag (ICC) gegen Italien. Zurecht?
Cuno Tarfusser: Ja klar, völlig zurecht! Jeder Vertragsstaat zum Römischen Statut ist verpflichtet, die Verordnungen des Internationalen Strafgerichtshofs umzusetzen. Dieser Verpflichtung ist Italien nicht nachgekommen, indem es einen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit Beschuldigten freigelassen hat, anstatt ihn an das Gericht in Den Haag zu übergeben. Der Vertragsbruch ist somit offensichtlich und schwerwiegend. Der Artikel 87 des Römischen Statuts sieht vor, dass das Gericht ein Verfahren gegen Italien einleiten kann und, meines Wissens, dies auch schon getan hat, um diesen Vertragsbruch gerichtlich festzustellen.
Zum konkreten Fall: Der Staatsanwalt am ICC, Karim Khan, hat am 2. Oktober 2024 einen Haftbefehl gegen den libyschen Brigadegeneral Al Masri, der für Folter und sexuelle Gewalt verantwortlich sein soll, beantragt. Die Interpol-Meldung, dass sich Al Masri in Europa aufhält und somit verhaftet werden könnte, kam am 6. Jänner. Und am 18. Jänner erließ der ICC den Haftbefehl. Al Masri wurde am 19. Jänner, nachdem er sich ein Juve-Spiel in Turin angesehen hat, verhaftet. Was passierte dann?
Die Polizei hat sofort, also noch am Sonntag, den 19. Jänner, den Justizminister, den Generalstaatsanwalt und das Oberlandesgericht Rom über die erfolgte Verhaftung informiert. Während der Minister völlig passiv geblieben ist, hat der Generalstaatsanwalt am Dienstag, den 21. Januar, vormittags, die Freilassung des Verhafteten beantragt mit der Begründung, diese sei „verfahrenswidrig“ erfolgt. Kurz darauf hat das Oberlandesgericht dem Antrag des Generalstaatsanwaltes stattgegeben und die Enthaftung des Beschuldigten wegen „Verfahrenswidrigkeit“ angeordnet. Al Masri wurde noch am selben 21. Januar, vormittags und auf Kosten der Steuerzahler, mit einem Dienstflugzeug nach Libyen geflogen. Eine mehr als suspekte kurze Zeitspanne für eine ansonsten für ihre Behäbigkeit kritisierte Bürokratie.
Wie hätten Sie selbst im Fall Al Masri reagiert?
Ich hätte, wäre ich der Generalstaatsanwalt gewesen, ganz einfach das Gesetz angewandt, anstatt es gegen dessen Sinn und Zweck zu interpretieren. Das Gesetz besagt, dass der Generalstaatsanwalt – ganz unabhängig von dem, was der Minister sagt, meint oder tut – die Haft beantragt. Also nicht, dass er sie beantragen kann, sondern beantragen muss, zumal die Verhaftung seitens der Polizei nicht, wie fälschlicherweise behauptet, auf deren Initiative, sondern in Durchführung eines Haftbefehls des ICC erfolgt ist und somit in keiner Weise „verfahrenswidrig“ war, wobei schon das Wort „verfahrenswidrig“ (irrituale) in keinem Gesetzestext aufscheint.
Die Bilder von Al Masri, der mit einem Flieger des italienischen Geheimdienstes nach Hause gebracht und dort wie ein Star empfangen wird, sind um die Welt gegangen. Hat Italien an Glaubwürdigkeit verspielt?
Ich glaube, dass die Freilassung Al Masris und die Art und Weise, wie diese erfolgt ist, nicht nur der internationalen Glaubwürdigkeit Italiens geschadet hat, sondern auch eine riesige Schande ist, zumal im Juli 1998 gerade in Rom – unter italienischer Präsidentschaft und Federführung – der Völkerrechtsvertrag, das Römische Statut, auf dem das Gericht beruht, verhandelt und unterzeichnet wurde.
US-Präsident Trump wirft dem ICC Machtmissbrauch vor und verhängt wegen der Haftbefehle gegen Israels Premier Benjamin Netanjahu und Ex-Vereidigungsminister Joaw Gallant Sanktionen. Wie mächtig ist der ICC? Braucht es dieses Weltgericht noch?
Die Macht des ICC ist direkt proportional zur Unterstützung, die es von den Mitgliedsstaaten erhält. Und ja, wenn man sich auch nur ein bisschen in der Welt umsieht, muss man feststellen, dass es dieses Gericht immer noch und immer mehr braucht. Was man nicht braucht, sind die Populisten, die Souveränisten, die Nationalisten diesseits und jenseits des großen Teiches, diesseits und jenseits des Mittelmeeres. Völkerrechtsverbrechen haben nämlich keine politische Farbe.
Interview: Artur Oberhofer
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