Du befindest dich hier: Home » Kultur » Morgenröte und Abendrot

Morgenröte und Abendrot

Zlata Chochieva im Vinzentinum Brixen: Flinke virtuos trainierte Finger, unabhängige Linke, rasch aufeinanderfolgende Anschläge zwischen butterweich und besenhart, ein Wechselbad der Gefühle.

Die Pianistin Zlata Chochieva führt in Meran und Brixen ein in zahlreichen Wettbewerben trainiertes Programm mit  stilistischen Freiheiten und unorthodoxen interpretatorischen Ansätzen auf.

Von Hubert Stuppner

Am Beginn der Woche spielte auf Einladung von „Musik Meran“ und „Musik Kultur Brixen“ die junge Pianistin aus der zu Russland gehörenden Teilrepublik Nord-Ossetien, Zlata Chochieva. Im Programm bezeichnet sich Chochieva als Schülerin von Michael Pletnev, der sie auch auf das ehemalige Rachmaninoff-Landgut Iwanowka einlud, wo Putin unlängst ein nationales Festival-Zentrum für seine „getreuen“ Pianisten – Pletnev, Luganski, Matsuev – errichtet hat. Sie spielte ein  Programm, das vom virtuosen deutsch-russischen Klavierspiel handelte, nämlich von der Morgenröte der Romantik im Vormärz mit dem Erzromantiker Schumann und vom Abendrot mit Rachmaninoffs letztem Klavier-Solo-Stück vor dem endgültigen Zusammenbruch der tonalen Musik: zwei große Variationszyklen: Schumanns „Symphonische Etüden“ (12 Variationen) am Beginn des Konzerts und Rachmaninoffs 20 „Variationen über Corellis La Folia (die Tollheit), komponiert 1931, am Ende.

Dazwischen kurzweilige romantische Einlagen, das Vierte Chopin-Scherzo und ein paar Präludien von Rachmaninoff: ein Programm in russischer Manier interpretiert: will heißen flinke virtuos trainierte Finger, unabhängige Linke, rasch aufeinanderfolgende Anschläge zwischen butterweich und besenhart, ein Wechselbad der Gefühle zwischen raschen Aufschwüngen gefolgt vom Nachgeben und Senken der Brust in ruhigen Passagen: kurz ein in zahlreichen Wettbewerben trainiertes Programm mit  stilistischen Freiheiten und unorthodoxen interpretatorischen Ansätzen.

Diese kamen in den vier Präludien von Rachmaninoff op. 23 angenehm zum Tragen, Stücke, die als improvisierte Salonmusik Rachmaninoffs private Seelenverfassung wiedergeben: alle in Moll, was eine amerikanische Verehrerin zur Frage an den Meister bewog, warum er immer nur „traurige Musik“ schreibe, worauf dieser mit der Gegenfrage konterte „Kennen Sie eine andere?“

Die raschen, von frühester Kindheit an trainierten Finger der Pianistin kamen vor allem in Chopins Viertem Scherzo, dem letzten und heitersten aller Scherzi, zur Geltung. Mit diesem kurzen, wie im Rausch erfundenen Klavierstück lehrte Chopin den schweren Flügel auf „Flügeln des Gesanges“ aufsteigen und fliegen: romantische Schwerelosigkeit und Entgrenzung durch Geschwindigkeit!

Etwas anders gelagert sind die Anforderungen der beiden großen Variationszyklen von Schumann und Rachmaninoff. In seinen frühen Werken warf sich Schumann sehenden Auges in die Arme seiner ungezügelten Inspiration und Genialität und stellte sich dem sich anbahnenden Konflikt zwischen Es und Überich, indem er seinen feucht-fröhlichen Einfällen das Korsett der strukturierten Übersichtlichkeit und formalen Begrenzung anlegte. Der Titel „Etüden“ meint im Grunde strenge Variation als formale Kontrolle über den unkontrollierten Einfall. Ähnlich Rachmaninoff mit seinen Corelli-Variationen über die als „Tollheit“ (La Folia) bezeichnete Thema: Variationen, um der überbordenden Phantasie Grenzen zu setzen. In diesem Werk schneidet Rachmaninoffs schwarzer Humor irrwitzige Grimassen, springt blasphemisch von einem verzerrten Barock in die triste Gegenwart , zu Bulgakovs fast zeitgleich geschriebenem mephistophelischen „Meister und Margarita“.

Aber sowohl in Schumanns Variationen als auch in diesen von Rachmaninoff sind Form und Struktur die Voraussetzung des konzertanten Gelingens. In beiden Zyklen findet sich stets die Anweisung „L’istesso Tempo“, d.h. keinerlei Abbrechen des dynamischen Stroms und strenger Rhytmus.

Chochievas Naturell scheint anders gepolt zu sein, sie mag es lieber frei und fröhlich, schlüpft ungern in das strenge Korsett der in Variationen gegossenen strengen Form, beschleunigt und verlangsamt nach Belieben und füllt die unausgefüllten Räume, die sich romantisch hinter den Noten auftun, mit ihrer eigenen von der Tradition abweichenden Lesart.

Mag sein, dass wir Nachgeborenen, nach fast 100 Jahren dokumentierter Meisterinterpretationen dieser Werke intolerant urteilen, aber unser Gedächtnis ist nun einmal von dieser Tradition belastet und geformt: Rachmaninoffs dämonische Corelli-Variationen sprechen unter den Händen ausgewiesener Virtuosen von Tragik, durchwegs schroff und düster und spukhaft. Deshalb die rasenden Tempi, etwa mit Shura Cerkassy (15 Min.), mit Zoltan Koczis (16 Min.), mit Luganski und Aszkenazy (17 Min.) Chochieva zieht in einer Youtube-Aufnahme mit ihrem weich federnden Anschlag das Werk aus dem Dunkeln ans Licht (21 Min.).

Am auffälligsten war jedoch das dynamische Nachlassen und Aufweichen der Strenge in Schumanns Variationszyklus. Wir wissen natürlich nicht, wie Clara Schumann, die Uraufführungs-Pianistin, dieses Werk gespielt hat, vermutlich hat es lange gedauert, bis das Werk seine endgültige Deutung erfuhr. Es gibt natürlich keine Königsregel, wie man das spielen soll. Aber es gab Könige, die solche Regeln statuierten. Allein auf Russland bezogen etwa Sviatoslav Richter und Wladimir Sofronitzki. Man höre sich Richters stürmische Prager-Version von 1956 an oder jene hochpoetische von Sofronitzky in einer Aufnahme von 1960. Sofronitzky wurde im Westen bekannt, als ihn 1945 Stalin zusammen mit Gilels nach Potsdam mitnahm, um seine Kontrahenten am Klavier bei Laune zu halten. Wenn Sie, verehrtes Publikum, Sofronitzkys besagten Konzertmitschnitt hören, dann erleben Sie Romantik in Reinkultur, jene von Eichendorff, die Schumann in der Mondnacht vertont hat: „Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die Lande, als flöge sie nach Haus.“

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (0)

Klicke auf den Button um die Kommentare anzuzeigen.

Kommentare anzeigen

Kommentar abgeben

Du musst dich EINLOGGEN um einen Kommentar abzugeben.

2025 ® © Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH/Srl Impressum | Privacy Policy | Netiquette & Nutzerbedingungen | AGB | Privacy-Einstellungen

Nach oben scrollen