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„Die Nerven lagen blank“

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Fünf Jahre nach der Corona-Pandemie: Das Institut für Allgemeinmedizin hat analysiert, welche Lehren Südtirol daraus ziehen kann.

von Markus Rufin

Fünf Jahre ist der Ausbruch der Corona-Pandemie her. Niemand von uns hätte sich je vorstellen können, mit einer derart extremen Gesundheitskrise konfrontiert zu werden. In Italien fehlte zudem ein aktualisierter Pandemieplan“, erinnert sich Giuliano Piccoliori, Hausarzt in St. Christina in Gröden und Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen.

Das Institut zieht fünf Jahre später Bilanz und zeigt auf, was Südtirol aus dieser Zeit lernen kann. Denn vor allem habe die Pandemie die Schwächen des Gesundheitssystems, besonders in der Primärversorgung, aufgedeckt, meint Piccoliori. Besonders dort, wo die Zusammenarbeit von Hausärzten mit Krankenhäusern nur schwach entwickelt war, wie beispielsweise in der Lombardei, waren die Folgen enorm. Während zu Beginn der Pandemie die Krankenhaus-Einweisungsrate bei 60 Prozent lag, sank diese zwei Jahre später auf fünf Prozent. Der Rest wurde von Allgemeinmedizinern betreut.

Christian Wiedermann, Ex-Primar für Innere Medizin und nunmehr Forschungskoordinator des Instituts, erinnert an die Überlastung der Spitäler, vor allem an jene der Notaufnahmen: „Länder mit gut vernetzten Einrichtungen für Primärversorgung, z.B. in Skandinavien, schnitten im internationalen Vergleich besser ab. Sie konnten die Patient:innen-Ströme effizienter lenken.“

Daneben hatten Allgemeinmediziner in der Pandemie laut Piccoliori aber vor allem deshalb eine zentrale Rolle, weil sie eine wichtige Quelle für präzise, wissenschaftlich fundierte Informationen waren. „Südtirols Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin leisteten einen wichtigen Beitrag zum Gelingen der Impfkampagnen. Widerständen und Misstrauen begegneten sie mit Professionalität und Einfühlungsvermögen“, bekräftigt der Wissenschaftliche Leiter des Instituts.

Das Institut selbst habe versucht, durch umfassende Studien und evidenzbasierter Gesundheitsinformation eine zentrale Rolle einzunehmen. „Vor allem gilt es, unsere Befragungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern zur psychosozialen Belastung während und nach der Gesundheitskrise zu erwähnen“, sagt Institutspräsident Adolf Engl. Hinzu kam die Öffentlichkeitsarbeit.

In besonderer Erinnerung bleibt der Südtiroler Sonderweg: Zur Erinnerung: Südtirol lockerte eigenständig die Maßnahmen, wurde aufgrund des Anstiegs der Infektionszahlen, die mit dem Sonderweg in Verbindung gebracht wurden, als rote Risikozone eingestuft.  Es sei deutlich geworden, dass lokale Maßnahmen enger mit den gesamtstaatlichen Vorgaben abgestimmt werden müssen, damit die Balance zwischen dem Schutz der Gesundheit und den wirtschaftlichen Interessen gelingen könne. „Die erneuten Lockdowns haben gezeigt, dass isolierte Entscheidungen in einer globalen Gesundheitskrise kontraproduktiv sein können“, ergänzt Wiedermann.

Für die Allgemeinmediziner sei die Pandemie eine besondere Herausforderung gewesen, erinnert sich Piccoliori: „Bis zu 13-stündige Arbeitstage waren keine Ausnahme. Die Nerven lagen oft blank.“ Stark belastend war der Umgang mit einer kleinen, aber lauten Minderheit von Patienten, die Maßnahmen wie Maskenpflicht oder soziale Distanzierung ablehnten oder gar die Existenz von Corona bezweifelten. „Wir Hausärztinnen und Hausärzte waren gewiss nicht ausreichend darauf vorbereitet, mit skeptischen Patientinnen und Patienten über Impfstoffe zu sprechen. Es fehlte uns nicht nur an spezifischen Informationen, sondern vor allem an der Fähigkeit, solche Vorbehalte überzeugend zu entkräften“, berichtet Piccoliori. Gerade in der Kommunikation erblickt Wiedermann einen wichtigen Ansatzpunkt und betont: „Wir müssen künftig in der Lage sein, medizinische Fakten so zu vermitteln, dass sie für die Menschen verständlich und glaubwürdig sind.“ In Südtirol, wo die Zweisprachigkeit zusätzliche kulturelle Herausforderungen mit sich bringt, seien die Allgemeinmediziner und der Sanitätsbetrieb entscheidend, um das Vertrauen in medizinische Maßnahmen zu stärken. „Gefährliche Fake News verbreiten sich schneller als je zuvor. Nur durch eine gezielte, transparente und den Zielgruppen angepasste Kommunikation können wir diesen manipulativen Falschmeldungen mit Entschiedenheit entgegentreten“, betont Wiedermann.

Die Impfung, unterstreicht Wiedermann, sei hingegen der Wendepunkt in der Pandemie gewesen und verweist auf internationale Studien: Sie belegen, dass die Impfungen die Gefahr schwerer Corona-Erkrankungen um bis zu 80 Prozent senken.

Allerdings seien Coronaviren, genauso wie Grippeviren nach wie vor noch präsent. Rund 6.000 Personen seien daran erkrankt, hauptsächlich Kinder und Jugendliche. Daher seien sowohl die AHA-regeln als auch die Auffrischimpfung nach wie vor empfehlenswert. Langzeitstudien zeigen, dass Impfungen gegen schwere Verläufe selbst dann wirksam bleiben, wenn der Schutz vor einer Ansteckung abnimmt.

Doch was sind nun die Lehren, die man aus der Zeit ziehen kann? „Vor allem die Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Krankenhäusern gilt es in Hinkunft zu verbessern. Zudem benötigt die Bevölkerung klare, leicht verständliche Informationen zu medizinischen Themen“, sagt Institutspräsident Engl. Elementar sei auch die Nachwuchsförderung im Hausarztberuf.

Des weiteren müsse das Gesundheitssystem das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen. Dazu seien Investitionen in digitale Infrastruktur, eine bessere Vernetzung von Gesundheitsbehörden und mehr Präventionsmaßnahmen vonnöten.

Sehr wichtig sei es überdies, die Bürger dort abzuholen, wo sie stehen. „Einfach zugängliche Angebote und die persönliche Beratung durch Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin schaffen Vertrauen – und sie wirken lange nach“, erklärt Wiedermann. „Widersprüchliche Informationen und mangelnde Transparenz haben während der Pandemie viel Vertrauen zerstört“, so Engl. Daher brauche es auch eine Fehlerkultur.

 

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