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„Er greift sie überall an“

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Im Gutachten zum sexuellen Missbrauch in der Südtiroler Kirche werden 24 konkrete Fälle dokumentiert. Der Umgang der Kirchenspitze mit den Fällen ist teilweise haarsträubend.

von Artur Oberhofer

Sie haben ganze Arbeit geleistet. Die Anwälte der Münchner Kanzlei Westphal, Spilker und Wastl haben in ihrem über 600 Seiten starken Gutachten für die Kurie 24 konkrete Fälle dokumentiert, die belegen, dass die Südtiroler Kirchenspitze – selbst im Zweifel – fast immer auf der Seite der Täter gestanden hat.

Dabei dürften die 24 geschilderten Fälle dürften nur die Spitze des Eisberges sein. Denn viele Betroffene dürften den erlittenen Missbrauch nicht angezeigt haben – weil sie damit gegen scheinbar unüberwindliche Machtstrukturen hätten ankämpfen müssen.

Drei Fälle, die im Gutachten penibel nachgezeichnet werden, belegen die wenige schmeichelhafte These des Fehlverhaltens der Südtiroler Kurie eindrücklich.

Fall 1

Die Hauptfigur ist ein deutschsprachiger Priester, der Mitte der 1950er Jahre zum Priester geweiht wurde.

Zu Beginn der 1960er Jahre gingen bei der Erzdiözese des Priesters mehrere Hinweise auf Beziehungen des Priesters zu teils nach damaligem und heutigem Recht minderjährigen Frauen ein. Der Priester räumte mehrere dieser Beziehungen ein, unter anderem sexuelle Handlungen mit einer Minderjährigen.

Der damalige Apostolische Administrator der italienischen Erzdiözese und spätere Bischof der Diözese Bozen-Brixen, Joseph Gargitter, teilte dem Priester mit, dass er sich an seinem bisherigen Einsatzort nicht mehr aufhalten könne und er sich bis zu seiner Versetzung an einen von der italienischen Erzdiözese benannten Ort zurückziehen müsse.

Der Priester antwortete Joseph Gargitter wie folgt:

„ […] ich danke aufrichtig für Ihr Verstehen und Entgegenkommen in der Art der Buße. […] Darf ich um Auskunft bitten, […] ob und inwieweit der Obere des Priesterhauses über meinen Aufenthalt informiert ist. Könnte der Grund mit ‚Einkehr und Studium‘ angegeben werden? Ich freue mich auf diese Zeit der Einkehr und Umkehr und verspreche Ihnen, dann mit Gottes Hilfe ein neues Priesterleben in der Seelsorge zu führen. Ich vertraue auf ihr Gebet und Ihre Hilfe mit dem (stillen) Wunsche in […] bleiben zu dürfen.“

Wenige Monate später wurde in der italienischen Erzdiözese die Entscheidung getroffen, den Priester in einem Kloster unterzubringen. Gleichzeitig war der Priester auch in der Seelsorge in umliegenden Gemeinden auf dem heutigen Gebiet der Diözese Bozen-Brixen aktiv.

Zwei Jahre nach seiner Verbringung in das Kloster war er wieder als Kooperator in einer Gemeinde seiner Inkardinationsdiözese auf dem heutigen Gebiet der Diözese Bozen-Brixen tätig. Auch während dieser Zeit wurden seitens des für ihn zuständigen Pfarrers Bedenken hinsichtlich seines Umgangs mit Mädchen geäußert.

Das Ordinariat der italienischen Erzdiözese wies den Pfarrer ausdrücklich darauf hin, dass der Priester für weibliche Jugendgruppen nicht in Frage komme.

In dieser Zeit beschwerten sich die Gemeindemitglieder beim bischöflichen Ordinariat, dass der Priester seinen „Hang zum weiblichen Geschlecht einfach nicht verbergen“ könne.

Der Priester wechselte Ende der 1960er Jahre in eine ausländische Diözese, wo er bis zu seinem Tod verblieb.

In dem letzten Kooperatorenbericht zu seiner Tätigkeit im Bereich der Diözese Bozen-Brixen heißt es:

„Durch manchmal unpriesterliches Verhalten Jugendlichen gegenüber hat der sonst überaus tüchtige und arbeitseifrige Herr nicht das nötige Ansehen für ein segensreiches Wirken. […]“.

In der ausländischen Diözese kam es unmittelbar nach der Ankunft des Priesters zu Missbrauchshandlungen an einem 11- bis 12jährigen Mädchen, die der Priester Jahrzehnte später einräumte.

Anfang der 2020er Jahre meldete sich eine Betroffene bei der Ombudsstelle der Diözese Bozen-Brixen und sagte: Der Priester habe sie und andere minderjährige Schulmädchen in den 1960er Jahren mit dem Auto nach Hause gefahren und dabei an den Geschlechtsteilen berührt.

Fall 2

In diesem Fall geht es um einen Priester, der bereits bei seinem ersten Einsatz als Kooperator Anfang der 1960er Jahre als verhaltensauffällig eingestuft worden war. Der damalige Generalvikar warnte den zuständigen Pfarrer, dass der ihm anvertraute Kooperator „nicht besonders intelligent sei und deshalb auch Dummheiten machen könne“.

Soweit ersichtlich bezog sich diese Warnung in erster Linie auf Kontakte zu Frauen, die eine „Gefahr für seinen Beruf“ darstellen könnten.

Einige Monate nach dieser Warnung ging im Ordinariat in Trient folgender Bericht des für den Priester zuständigen Dekans ein:

„Seine Vertrauensseligkeit cum mulieribus ist sehr verdächtig. Mädchen befinden sich oft länger als zulässig in seinem Zimmer, Einladungen im Winter zu Schlittenfahrten waren nicht selten. Ausflüge mit Mädchen kommen immer wieder vor, kürzlich soll er in Rabenstein in Zivil gesehen worden sein […].“

Der Pfarrer beschwerte sich, dass die „Umgangsformen“ des Priesters gegenüber – soweit ersichtlich – volljährigen Frauen, „den Leuten Anlass zu Redereien“ böten.

Darüber hinaus begehe der Priester „immer wieder Dummheiten und Ungeschicklichkeiten“.

Im Kooperatorenbericht aus der Mitte der 1960er Jahre wurde auf die Frage nach dem „Benehmen gegenüber dem weiblichen Geschlechte und den Schulkindern“ vermerkt, dass der Priester „zuwenig Abstand“ halte und gegenüber der „weiblichen Jugend wenig zurückhaltend“ sei.

Zweimal sei er vom Dekan überrascht worden, „als er sich in [dessen] Mittelschulklasse (Mädchen)“ befunden hätte, obwohl er dort „nichts zu suchen“ gehabt habe. Der Dekan habe aus dem Klassenraum „ein großes Gelächter der Mädchen“ gehört.

Der Priester wurde noch im selben Jahr als Kooperator in eine andere Pfarrei versetzt.

Mitte der 1970er Jahre, zum damaligen Zeitpunkt hatte der Priester bereits drei weitere Pfarreiwechsel hinter sich, wandte sich ein Pfarrer an Generalvikar Josef Michaeler mit folgender Klage:

„Ich habe erfahren, dass [der Priester] in seinen gesellschaftlichen Beziehungen weit über das rechte Maß [sic!] hinausrast, wobei sich Situationen ergeben, die das priesterliche Ansehen völlig zerstören. Schon voriges Jahr hatte [der Priester] freundliche Beziehungen zu Mädchen aus […], Cousinen, zur Häuserin des Herrn Pfarrers […], Beziehungen, über die sich Leute aus […] gewundert haben, wenn er mit ihnen dort in […] zu sehen war.“

Nach einer weiteren Versetzung beschwerte sich der dortige Pfarrgemeinderat Mitte der 1970er Jahre bei Generalvikar Josef Michaeler darüber, dass der Priester „bei Vergnügungsveranstaltungen sinnlos beträchtliche Summen Geld [vergeude,] indem er kostspielige Getränke, hauptsächlich den ‚jungen Damen‘ in abstoßender Aufdringlichkeit [aufzwinge].“

Anfang der 1980er Jahre fand ein Interventionsgespräch zwischen Generalvikar Josef Michaeler und dem Priester statt. Es wurde vereinbart, dass dieser in Österreich eine Entwöhnungskur macht. Danach folgte ein jahrelanger, reger Briefwechsel zwischen den beiden. Generalvikar Michaeler erinnerte den Priester immer wieder an die Abmachungen. Der Priester bat immer wieder darum, man möge ihm eine eigene Pfarrei anvertrauen.

Mitte der 1980er Jahre, fiel der Priester erneut wegen „unverschämt[en] Verhalten[s]“ gegenüber Frauen auf. In den Folgejahren wurden ihm – wohl primär bedingt durch den massiven Alkoholkonsum – nach und nach Kompetenzen und Zuständigkeiten entzogen.

Ende der 1980er Jahre wurde ein ranghoher Mitarbeiter der Diözese von Bischof Wilhelm Egger damit beauftragt, das Amtsenthebungsverfahren durchzuführen. Der Priester kam dem zuvor, indem er auf die von ihm zum damaligen Zeitpunkt betreute Pfarrei verzichtete und sich auf Veranlassung der Bistumsleitung in psychiatrische Behandlung begab. Nachdem es jedoch auch in der Behandlung Schwierigkeiten gegeben hatte, wurde der Priester für einige Monate im Kapuzinerkloster in Brixen untergebracht. Die darauffolgenden zehn Jahre waren geprägt von Klinikaufenthalten in der Psychiatrie und erfolglosen Versuchen der Bistumsleitung, dem Priester eine geeignete Aufgabe zu übertragen. Im Protokoll der Personalkommission zur Sitzung Ende der 1980er Jahre heißt es:

„Wenn er etwas gut drauf ist, dann ist er völlig unkontrolliert, vor allem Mädchen und Frauen gegenüber; dies weniger in Taten, als in Worten und Witzen usw.“

Ab Mitte der 1990er Jahre folge eine langwierige bistumsinterne Auseinandersetzung betreffend die Pensionsansprüche des Priesters.

Anfang der 2010er Jahre drohte Generalvikar Matzneller dem Priester aufgrund anhaltender Verfehlungen mit der Laisierung.

Fall 3

Der Priester war ab Mitte der 1960er Jahre Kooperator in einer Pfarrei. In einem Kooperatorenbericht des zuständigen Pfarrers heißt es:

„Hat sich vergangen mit einem Schulmädchen. Er berührte kräftig ihre Schamgegend über der Kleidung (in der Schule)] Dieses scandalum und […] sprechen für eine Versetzung. Um was Gefertigter auch ergebenst ersucht.“

Die gewünschte Versetzung erfolgte.

Ende der 1970er Jahre gingen bei Bischof Joseph Gargitter mehrere Beschwerdeschreiben über den Priester ein. Zu dieser Zeit war der Priester offenbar Direktor einer Mittelschule.

Unter anderem wird die Thematisierung von Sexualität im Unterricht als besorgniserregend gesehen.

Bischof Ivo Muser

Ein Jahr später wurde in einem Schreiben ohne eindeutig erkennbaren Absender (vermutlich der Bürgermeister der Gemeinde, in der der Priester tätig war) und Empfänger unter anderem Folgendes mitgeteilt:

„[…] Sein Verhalten Mädchen gegenüber:

– Der Braut des […] hat der Pfarrer im Gasthaus öffentlich hinter die Bluse gegriffen und dabei gesagt: hier ist eine schöne Welt…

Ein anderes Mal hat er dasselbe Mädchen im Geschäft angegriffen… Der […] hat den Pfarrer daraufhin gepackt: wenn Du unsere Mädchen nicht in Ruhe lässt, schlage ich dich krankenhausreif… daraufhin ist es besser geworden.

– Die Nichte des […] hat er in der Bücherei mehrmals […] abgegriffen… das Mädchen hat es der Mutter geklagt und sie ist nie mehr in die Bücherei. […].“

Unmittelbar im Anschluss kommt es bei Generalvikar Michaeler zu weiteren Beschwerden über den Priester. In einem nicht unterzeichneten Dokument heißt es:

„[…]
 Sein Umgang mit Mädchen ist skandalös. Greift sie überall an. […]“.

Aus den Akten geht hervor, dass der Priester bis in die 1990er Jahre an einer Grundschule unterrichtete.

Der Priester war bis zu seiner Ruhestandsversetzung Mitte der 2000er Jahre in verschiedenen Pfarreien als Pfarrer eingesetzt.

 

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