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„Wir sind alle arme Sünder“

Bischof Ivo Muser

In dem 630 Seiten starken Gutachten zu den Missbrauchsfällen in der Südtiroler Kirche wird ein Fall rekonstruiert, an dem sich das Fehlverhalten der Kurienspitze gut festmachen lässt.

von Artur Oberhofer

In dem rund 630 Seiten starken Gutachten zu den Missbrauchsfällen in der Südtiroler Kirche werden 24 konkrete Fälle geschildert. Jeder Fall für sich ist krass.

Ein Fall, an dem sich das Fehlverhalten der (damals amtierenden) Südtiroler Kirchenverantwortlichen gut festmachen lässt, ist der Fall Nr. 15.

Dieser Fall beginnt Mitte der 1960er-Jahre, als ein Kooperator über „seinen“ Priester schreibt:

Gegenüber Jungmännern von 14-17 Jahren scheint er manchmal seine Schwierigkeiten zu haben. Bis jetzt kam es zu keinem ,Fall‘. Ich hoffe sehr, dass es geht.“

Mitte der 1990er-Jahre nimmt sich in derselben Gemeinde ein junger Lehrer das Leben. In der Pfarrei werden in der Folge Stimmen laut, die behaupten, dass der Suizid auf den sexuellen Missbrauch durch den Priester zurückzuführen sei.

Diese Stimmen dringen bis zum Generalvikar durch und werden hinter den diskreten Mauern der Südtiroler Kurie zum brisanten Thema.

Generalvikar Josef Michaeler führt im Vorfeld der Beerdigung des jungen Lehrers, der den Freitod gewählt hat, Gespräche mit dem Priester, von dem es heißt, dass er den Lehrer in Kindesjahren sexuell missbrauch habe, und mit einem weiteren Geistlichen.

Josef Michaeler, die Nr. 2 in der Südtiroler Kirchenhierarchie, gelangt am Ende zu der Überzeugung, dass der mit schwerwiegenden Vorwürfen belastete Priester besser nicht die Beerdigung zelebrieren sollte.

Doch der Priester „gehorcht“ nicht.

In einem kircheninternen Vermerk von Generalvikar Josef Michaeler heißt es:

„1) Morgen (…) findet in (…) das Begräbnis eines jungen Mannes statt, der den Freitod gewählt hat. Ich ersuche den (Priester), das Begräbnis nicht selber abzuhalten, sondern durch einen Kooperator oder einen Mitbruder aus (…) zelebrieren zu lassen.

2) Für den Sonntag möge (der Priester) einen Ersatz schicken, der eine Erklärung abgibt in dem Sinn, dass ein seelsorgliches Wirken des (Priesters) unter den gegebenen Umständen kaum mehr möglich ist, er darum (…) um Entlassung gebeten hat.

3) Wenn der (Priester) selber eine Erklärung schriftlich abgeben will in der Form eines Schuldbekenntnisses oder einer Bitte um Verzeihung, möge der Text vorher unbedingt mit einem Rechtsanwalt besprochen werden, damit er nicht für andere Zwecke missbraucht werden kann.“

Trotz der Anordnung des Generalvikars leitet der Priester das Begräbnis des jungen Lehrers, was zu einer – wie es nun im Gutachten heißt – „Eskalation der bis dahin lediglich schwelenden Auseinandersetzungen in der Pfarrei führt“.

Der Priester ist zu diesem Zeitpunkt bereits länger als ein Jahrzehnt in der Pfarrei als Pfarrer und Religionslehrer tätig. Mitte der 1960er-Jahre war er dort bereits fünf Jahre als Kooperator tätig gewesen.

Immer laut dem Gutachten sei der Priester schon früh durch seine homosexuelle Neigung und seine Beziehungen zu volljährigen Männern aufgefallen. Aber auch minderjährige Jungen seien bereits zu seiner Zeit als Kooperator vor seinen Übergriffen gewarnt worden. Im Lehrerkollegium habe man von seiner pädophilen Neigung gewusst und versucht, diese zu „kanalisieren“.

Als einige Personen damit beginnen, die Übergriffe des Priesters auf minderjährige Jungen zu thematisieren, werden sie von den Unterstützern des Gottesmannes angegriffen und teilweise sogar bedroht. Die Pfarrei habe sich in zwei Lager gespalten.

Einige Monate nach dem Begräbnis des jungen Lehrers stattet Bischof Wilhelm der Pfarrei einen Pastoralbesuch ab. In dem dazu angefertigten Protokoll heißt es:

„Die Gerüchte im Dorf betreffend den (Priester) und seine Neigungen zu Buben werden angesprochen. Seit der anstößigen Predigt des (Priesters) bei der Beerdigung des jungen Mannes, der Selbstmord verübt hatte, seien die Gerüchte – auch in den Schulen – immer mehr aufgekommen. Manche im Pfarrgemeinderat sind der Überzeugung, dass etwas Wahres dran ist, andere weisen dies zurück. Einer meinte, dass die Gerüchte rein von Erwachsenen ausgehen würden und es sich um weit Zurückliegendes handle.“

In der Pfarrei gibt es eine Gruppe von Pfarreiangehörigen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Begräbnis des jungen Lehrers versuchen, den Priester zu einem Schuldeingeständnis zu bewegen. Der Priester selbst soll gegenüber Einzelpersonen oder im kleinen Kreis offen über seine Taten gesprochen haben. Einige Monate nach dem Begräbnis sei ein Gespräch anberaumt worden, an dem neben einigen Opfern des Priesters unter anderem auch der Bürgermeister der Gemeinde teilnehmen sollte. Daraufhin hätten mehrere Gemeindemitglieder den Priester im Widum aufgesucht und zur Rede gestellt.

Nach dem Gespräch habe er einen Brief verfasst, in dem er die Missbrauchshandlungen zugeben und sich bei den Betroffenen für das zugefügte Leid entschuldigen wollte. Dieser Brief wird nie veröffentlicht, da der Priester wenige Tage später aus der Gemeinde verschwindet, heißt es in dem Gutachten.

In seinem Abschiedsbrief an die Pfarrei, der vom Kooperator und später auch von dem aushilfsweise eingesetzten Pfarrer in Gottesdiensten verlesen wird, begründet der Priester seinen wiefolgt: 

„[…] Ich durfte in [der Pfarrei] hier [mehrere] Jahre als Kooperator und nahezu [weit mehr als ein Jahrzehnt] Jahre als Pfarrer[…] wirken. Ich habe versucht, mein Bestes zu geben, und mit Eurer Hilfe ist es mir gelungen, viel Gutes zu wirken.

Ich bin seit […] Jahren Priester. In dieser Zeit konnte ich viel Gutes tun, aber es sind mir auch Fehler unterlaufen. Es tut mir leid, wenn ich den einen oder anderen durch mein Verhalten gekränkt oder verletzt haben sollte. Ich wurde mit Vorwürfen konfrontiert, bei denen es um Vorfälle geht, die schon sehr weit zurückliegen. Wenn ich mich damals nicht richtig verhalten habe, so war es mir bestimmt nicht bewußt. Habe ich damals gefehlt, so bitte ich heute aufrichtig um Vergebung. Verzeiht mir! Auch als Priester ist man nur ein Mensch mit Fehlern und Mängeln. Die Kirche Jesu ist eben nicht nur heilig, sondern auch eine Kirche der Sünder. Mit dem seligen Bischof Johann Nepomuk von Tschiderer bekenne ich: ,Wir sind alle arme Sünder‘.

Ich danke allen, die mich trotz meiner Fehler ertragen haben, trotz allem zu mir standen und die guten Seiten an mir sahen. Ich danke besonders jenen, die in diesen Tagen mir geholfen haben, auch jener Gruppe […], die als meine Gegner angesehen werden, eine Aussprache mit mir pflegten und mir wertvolle Ratschläge erteilten. (…) Beschuldigen Sie bitte niemanden hier in […]. Bitte, keine anonymen Anrufe oder Briefe, keine Drohungen, niemanden [sic!] gegenüber. Reichen wir uns wieder die Hand zur Versöhnung. Nehmt auch mich an so wie ich bin, mit meinen guten und weniger guten Seiten. Wer ist denn schon ohne Fehler. Keiner von uns darf einen Stein auf den anderen werfen.

Ich glaube, daß ich als Seelsorger nicht mehr das geben könnte, worauf die Pfarrgemeinde einen Anspruch hat; und ich will auch zum Frieden und Eintracht beitragen. Deshalb habe ich beschlossen, freiwillig zu gehen. An diesem Beschluß werde ich festhalten, weil ich ihn für richtig und angemessen halte. Ich würde daran auch nichts ändern, wenn jemand sich bei mir entschuldigen würde. Es soll auf niemanden Druck ausgeübt werden, das zu tun.

[Die Pfarrei] wird bald wieder einen guten Seelsorger bekommen. Möge nach meinem Abgang wieder Friede und Eintracht einkehren.

[…]“

Einige Monate nach seinem Weggang schreibt  der Priester an Generalvikar Josef Michaeler (Auszug):

„Ich danke Ihnen für das Wohlwollen, das Sie mir in den vielen Jahren entgegengebracht haben und besonders auch in der kritischen Phase der letzten Monate. Ich hoffe, daß in [der Pfarrei] allmählich wieder Ruhe einkehrt, wenn ich weit weg bin. Danke auch für die Ausfertigung des neuen Beichtpatentes.“

Im selben Schreiben teilt der Priester dem Generalvikar mit, dass er seit seinem Weggang im Ausland auch als Seelsorger in einem Frauenkloster tätig sei und sonntags in einer der umliegenden Pfarreien aushelfe.

Mitte der 2000er Jahre wendet sich ein Pfarreiangehöriger an den damals bereits nicht mehr aktiven Generalvikar Josef Michaeler. Josef Michaeler habe den Studenten zwar empfangen, das Gespräch sei jedoch sehr schnell eskaliert und dem Studenten sei gedroht worden, man werde seine Zukunft zerstören, wenn er seine Nachforschungen nicht einstelle.

Kurz nach der Einrichtung der Ombudsstelle in der Diözese Bozen-Brixen, die von einer Ombudsperson gemeinsam mit Generalvikar Josef Matzneller geführt wurde, wendet sich ein Betroffener an die Ombudsstelle und teilt mit, dass er vor einigen Tagen im Büro des Generalvikars Josef Matzneller um einen Termin gebeten, ihn jedoch bis heute niemand zurückgerufen habe. Er gab an, dass er nach den öffentlichen Äußerungen des Generalvikars Matzneller im Zusammenhang mit einem anderen Missbrauchsfall in der Diözese Bozen-Brixen endlich den Mut gefasst habe, an die Öffentlichkeit zu treten. Er berichtet zunächst, dass er im Alter von 13/14 Jahren während eines Ferienaufenthaltes in einem Kloster von mehreren Patres missbraucht worden sei. Außerdem sei er – soweit aus dem Bericht ersichtlich in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit diesem Ferienaufenthalt – von dem Priester per Anhalter mitgenommen worden.

Während der Fahrt habe der Priester die Hand auf seinen Oberschenkel gelegt und sei mit ihm zu einer abgelegenen Wiese gefahren. Was dort geschehen sei, könne man sich denken. Der Priester habe ihm dafür Geld gegeben, ebenso wie die Patres im Kloster.

Der Betroffene berichtet weiter, dass er den Priester sehr oft in Zivilkleidung im Bahnhofsbereich oder im Park in Bozen gesehen habe, wo dieser immer wieder Jugendliche für sexuelle Abenteuer mitgenommen habe.

Mit Schreiben vom Februar 2024 wendet sich ein ehemaliger Einwohner der Pfarrei, in der der Priester mehr als 20 Jahre lang tätig war, mit folgendem Brief an Bischof Ivo Muser (Auszug):

„Ja – und dann war der [Priester] da. Über zwanzig Jahre hatte er Jungs missbraucht. Die Leute im Dorf glaubten nicht ihren Kindern – nein – sie sagten, das würden sie nicht glauben und wenn, dann hätten die Kinder den [Priester] verführt. Ist eigentlich die ganze Welt verrückt? Für mich ist der [Priester] ein armer Hund gewesen, wie man so umgangssprachlich sagt, der sehr wahrscheinlich schon selbst als Kind oder Jugendlicher Missbrauch erlebt hatte – also Opfer und Täter zugleich. Schuld ist für mich hauptsächlich das System […].“

 

 

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