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„Warum tun Sie sich das an?“

Stefan Santifaller (Foto: Stefan Geschke)

Der Brixner Stefan Santifaller ist im März dieses Jahres als „Nicht-Läufer“ vom südwestlichsten Punkt Europas in Portugal in 182 Tagen bis zum Nordkap, dem nördlichsten Punkt des europäischen Festlands, gelaufen. Das sind 7.700 Kilometer oder 182 Marathons. Danach ist er mit dem Rad in 40 Tagen 6.000 Kilometer bis nach Portugal zurückgeradelt. Warum tut ein Mensch sich solche Strapazen an?

TAGESZEITUNG Online: Herr Santifaller, sind Sie ein extremer Mensch, der extreme Herausforderungen sucht?

Stefan Santifaller: Ich bezeichne mich nicht als extremen Mensch. Vielmehr sehe ich mich als vielseitigen, lebensfrohen Menschen, der die Welt auf verschiedene Arten entdecken will. Was mich antreibt, ist meine Neugier – auf mich selbst, die Welt und das, was möglich ist. Projekte wie Crossing Europe Twice sind für mich weniger ein „Extrem“, sondern eine tief persönliche Reise außerhalb meiner bisherigen Komfortzone. Abenteuer eben.

Sie sind im März dieses Jahres ausgehend vom südwestlichsten Punkt Europas in Portugal in 182 Tagen bis zum Nordkap, dem nördlichsten Punkt des europäischen Festlands, gelaufen. Das sind 7.700 Kilometer oder 182 Marathons. Wollten Sie einen Rekord aufstellen, etwas Einzigartiges tun, Ihre Grenzen ausloten oder was hat Sie dazu motiviert?

Genau. Das Projekt bestand darin, als „Nicht-Läufer“ 182 Marathons in 182 Tagen zu laufen. Dabei geht es mir nicht darum, Rekorde zu brechen, sondern um das Abenteuer und die persönliche Erfahrung. Ich wollte Europa auf eine kreative und intensive Art erleben – Schritt für Schritt. Dabei habe ich nicht nur meine physischen, sondern auch meine mentalen Grenzen verschoben, während ich gleichzeitig die Schönheit der Landschaften und die Begegnungen mit den Menschen entlang der Strecke genossen habe.

Warum tun Sie sich solche Strapazen an, statt sich einfach zurückzulehnen und das Leben zu genießen?

Für mich ist genau das Abenteuer der Inbegriff dafür, das Leben aktiv zu genießen. DerartigeHerausforderungen bieten mir die Möglichkeit, tiefer zu gehen – mental, körperlich und emotional. Außergewöhnliche Erlebnisse und Geschichten wie diese machen das Leben für mich reich und wertvoll.

Wegweiser für Ihre Tour war eine Narbe, die nach einer Tumoroperation zurückgeblieben ist. Wie darf man sich das vorstellen?

Diese leicht S-förmige Narbe auf meiner linken Schulter aufgrund einer Tumor-OP ist für mich sowohl ein Wachrüttler als auch ein Geschenk. Sie symbolisiert die Bedeutung, den eigenen Träumen zu folgen, und erinnert mich auch an die Zerbrechlichkeit des Lebens. Nach der Schockdiagnose eines Knochentumors im Jahr 2021 und einer Zeit voller Unsicherheit, negativer Prognosen und viel Zeit mit Patienten auf der Tumorstation wurde mir klar, wie wertvoll das Leben ist. Als ich nach 13 Monaten der Wartezeit die Nachricht bekam, dass es sich um einen gutartigen Tumor handelt, habe ich beschlossen, meine Träume zu leben – eine Chance, die viele in meinem Umfeld auf der Tumorstation nicht hatten. Ich entschied, einen meiner Träume zu packen, ihn nicht mehr loszulassen und „auf die Straße zu bringen“. Ich fotografierte meine Narbe, legte das Bild auf die Weltkarte und das Projekt war klar. So wusste ich, dass ich jeden Tag auf dem richtigen Weg bin. Meinem großen Traum entgegen. Diese Narbe erinnerte mich täglich daran, wie wertvoll das Leben ist und wie wichtig es ist, das Beste aus den Chancen des Lebens zu machen.

Ein Abenteuer wie Ihres erfordert einen großen logistischen Aufwand. Mit welcher Ausrüstung sind Sie gestartet, wie haben Sie unterwegs Verpflegung und Ausrüstung organisiert?

Ich war sehr minimalistisch unterwegs, ohne Begleitteam und -auto. Unsupported. Mein treuer Begleiter war „Olaf“, ein dreirädriger Laufwagen, in dem ich alles Nötige vor mir herschob: Zelt, Schlafsack, Kleidung und Verpflegung. Versorgungspakete mit Ersatzkleidung, Schuhen und Nahrung habe ich alle 1000 km über Social Media organisiert und an Unterstützende entlang der Strecke geschickt. Ein Experiment, das auf Vertrauen basierte und überraschend gut funktionierte.

Wie viele Stunden sind Sie täglich gelaufen?

Im Durchschnitt war ich täglich etwa 6-8 Stunden unterwegs – inklusive Pausen. An den flacheren und schnellen Tagen konnte ich die Strecke in etwa 4-5 Stunden reiner Laufzeit bewältigen. An den langen Tagen, an denen ich bis zu 75 km und rund 2.000 Höhenmeter zurücklegte, waren es 10-12 Stunden – oft über anspruchsvolles Gelände. Beim Radfahren waren es 8-12 Stunden, mit einem Tagesziel von bis zu 250 km.

Wie viele Laufschuhe haben Sie auf Ihren 182 Marathons verbraucht?

Insgesamt habe ich 10 Paar Laufschuhe verbraucht – fünf für Trail-Passagen und fünf für die Straßenabschnitte.

Wo haben Sie unterwegs übernachtet?

Hauptsächlich im Zelt, bei gutem Wetter auch unter freiem Himmel im Schlafsack. Dies spart Zeit. Manchmal übernachtete ich auch an Bushaltestellen, Supermarkt-Ladeflächen, Abwasserrohre, Unterführungen oder bei Menschen, die mich spontan einluden. Die Nächte unter freiem Himmel, besonders an wunderschönen Seen in Schweden und in beeindruckenden Landschaften in Spanien, waren die mit magischsten Momente meiner Reise.

Die schwerste Phase durchlaufen die meisten in den ersten Tagen, danach stellt sich der Körper auf die Belastung ein. Welches waren die härtesten Kilometer für Sie?

Die erste Woche in Portugal war sehr herausfordernd – 6 Tage lang kalte Regengüsse, Matsch und ständige Bachquerungen, alles war nass, und ich hatte keine trockenen Sachen mehr. Eine wichtige Komponente, um direkt abgehärtet zu werden. Das, was danach kam, war noch härter. Die Sierra de Cazorla nach Woche 3 in Spanien war sowohl mental als auch körperlich extrem fordernd. Ich kämpfte mit einer Sehnenentzündung im rechten Bein, was die langen, einsamen Strecken noch härter machte. Wieder schmerzfrei bekam ich dieselbe Entzündung im linken Beim, welche ich nach einer Woche wieder schmerzfrei gerannt bin. Die Zeit der Entzündungen war eine Mischung aus körperlicher Belastung und mentalem Durchhaltevermögen – die wirklich härtesten Kilometer meiner Reise.

Wie haben Sie sich ernährt?

Mein Hauptnahrungsmittel war Hafer – Porridge, Kekse, Haferprotein und Hafermilch. Insgesamt habe ich rund 5.000 Haferkekse gegessen, die mich sowohl physisch als auch mental durchgetragen haben. Mit jedem Keks feierte ich symbolisch die kleinen Etappenziele. Hinzu kamen selbstpräparierte isotonische Getränke, feste Mahlzeiten und Nahrungsergänzungsmittel, um den Bedarf von ca. 7000 Kalorien pro Tag zu decken.

Wie haben Sie sich in abgelegenen Gebieten ohne klare Wegmarkierungen orientiert?

In abgelegenen Gebieten habe ich mich häufig auf mein Bauchgefühl und meine Erfahrung verlassen. Karten und GPS waren hilfreich, aber letztlich habe ich mich durch das Gelände und die Natur leiten lassen. Landmarken wie Flüsse oder Gebirgskämme gaben mir Orientierung, und die Gespräche mit Einheimischen halfen mir, den richtigen Weg zu finden.

Hatten Sie unterwegs gesundheitliche Probleme?

Ja, es gab einige Herausforderungen. Neben der Sehnenentzündung hatte ich auch mehrmals mit Durchfall und einer Lebensmittelvergiftung in Spanien zu kämpfen. Ich habe gelernt, der Körper passt sich an alle Umstände an – egal, wie ungemütlich es wird.

Hatten Sie je Zweifel daran, Ihr Ziel zu erreichen? Gab es Momente, an denen Sie ans Aufgeben gedacht haben?

Nein, Aufgeben ist keine Option. Ich wusste, es geht immer weiter – der nächste Schritt zählt. Natürlich gab es Momente, besonders im 1.500 km langen schwedischen Inland, in denen alles endlos und monoton wirkte. Aber die Antwort war einfach: „Warum ich das tue? Weil ich hier aus freien Stücken sein darf und das beste Abenteuer meines Lebens erlebe.“ Das gab mir immer wieder die nötige Kraft, weiterzumachen.

Am 24. September um 12:58 Uhr haben Sie Ihr Ziel Nordkap erreicht. Wie erschöpft waren Sie da?

Als ich nach 182 Tage und 7.700 km das Nordkap erreichte, war ich vor allem dankbar und voller Demut, das für viele Unmögliche möglich gemacht zu haben. Es war ein unglaublicher Moment, aber gleichzeitig sehr fokussiert, da der nächste Abschnitt meiner Reise bereits wartete. Am nächsten Tag stieg ich direkt aufs Fahrrad, um nach Portugal zurückzukehren. Die Kälte war spürbar, die Tage kurz, und die Dunkelheit kam früh. Während des Laufens war ich im Flow, doch nach drei Jahren ohne Fahrrad wusste ich, dass der Rückweg schmerzhaft und ein harter Anpassungsprozess wird. Der Gedanke an Wärme und Sonne in Portugal motivierte mich täglich – „Es wird jeden Tag wärmer, wenn ich mein Tagesziel erreiche.“

Vom Nordkap sind Sie mit dem Rad in 40 Tagen 6.000 Kilometer bis nach Portugal zurückgeradelt. Um die Runde zu schließen?

Ja, der Rückweg mit dem Fahrrad war eine wertvolle Erfahrung, weil er mir zeigte, wie unterschiedlich man einen Kontinent bereisen kann – zu Fuß und mit dem Rad. Das Laufprojekt wurde so für mich noch spezieller, da ich den direkten Unterschied zum Radeln erlebt habe.

Gab es besondere Begegnungen, die Ihnen in Erinnerung bleiben werden?

Die Begegnungen mit den Menschen entlang der Strecke waren genauso unvergesslich wie die Natur. In Frankreich lud mich ein junger Mann spontan ein, ohne mir zunächst den Grund zu verraten. Später erfuhr ich, dass er eine schwere Zeit durchlebte und sich zurückgezogen hatte. Durch meine positive Energie konnte ich ihm helfen, aus seiner Isolation herauszukommen. Als er mir später sagte, dass es der schönste Tag der letzten fünf Jahre war, wusste ich, dass meine Reise zur richtigen Zeit am richtigen Ort war.

Das Schönste und das Schlimmste auf Ihrer Tour – was war das?

Die Tour war eine Mischung aus bereichernden Begegnungen und herausfordernden Momenten. Besonders schön waren die Erlebnisse, bei denen der Austausch mit anderen und die positiven Veränderungen im Leben von Menschen im Mittelpunkt standen. Ein Highlight war definitiv Köln, wo mehr als 20 Menschen mir folgten und wir gemeinsam die beste Zeit hatten. Dieser Moment war ein klares Zeichen dafür, wie Sport Menschen miteinander verbinden kann. Die anstrengendsten Momente waren die Strecken durch stark befahrene Straßen und trostlose Gewerbegebiete. Diese Abschnitte waren sowohl körperlich als auch geistig sehr fordernd und boten wenig Gelegenheit zur Erholung.

Sie sind 27 Jahre alt, in Ihrem Curriculum steht als Berufsbezeichnung: Abenteurer und Kunstfotograf. Leben Sie vom Extremsport?

Ich lebe nicht vom Extremsport, sondern von der Vermarktung meiner Projekte durch Vorträge, Sponsoren und dem Verkauf von Kunstwerken. Mein beruflicher Werdegang ist vielfältig und von meiner Neugierde und Leidenschaft für verschiedene Bereiche geprägt. Über den Leistungssport in meiner Jugend kam ich durch das Pfeiffersche Drüsenfieber und eine längere Reha zur Fotografie. Meine Liebe zu den Bergen, besonders den Dolomiten, führte mich schließlich zur Landschafts- und Kunstfotografie. In den letzten Jahren habe ich Ausstellungen organisiert und verschiedene Vorträge gehalten.

 Interview: Heinrich Schwazer

 

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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