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„Das ist ein Traum“

Eugene Sensenig

Wie der Politikwissenschaftler Eugene Sensenig von der Notre Dame University im Libanon den Sturz des Regimes in Syrien bewertet. Welche Hoffnungen mit einer Neuorientierung verbunden sind und wie es um die Sicherheit der Christen im Land steht.

TAGESZEITUNG Online: Herr Sensenig, nach Jahren des Bürgerkriegs ist das Assad-Regime nun in erstaunlich kurzer Zeit zusammengebrochen. Wie war diese plötzliche Entwicklung möglich?

Eugene Sensenig: Das syrische Assad-Regime steckt seit 2011, dem Beginn des Arabischen Frühlings, in großen Schwierigkeiten. Mit der Unterstützung ausländischer Militärinterventionen aus dem Iran, dem Libanon und Russland konnte es aber die Kontrolle über einen großen Teil seines Territoriums behalten. Der Krieg in der Ukraine, in Gaza und im Libanon schwächte das Engagement aller drei ausländischen „Wohltäter“ des Regimes erheblich. Der jüngste Waffenstillstand zwischen Israel, dem Libanon und der Hisbollah war jedoch der Wendepunkt. Als klar wurde, dass die Hisbollah physisch und militärisch gebrochen und nicht in der Lage war, dem Regime zu Hilfe zu kommen, erkannten die Türkei und ihre Stellvertreter, dass diese Möglichkeit nicht ungenutzt bleiben durfte, und zogen mit überwältigender Gewalt in die großen syrischen Städte und Hochburgen des Regimes.

Warum hat die Armee dem Regime in diesem Moment die Unterstützung verwehrt?

Die in Aleppo, Hama und Homs stationierten syrischen Regierungstruppen waren nicht auf den massiven Ansturm der von der Türkei unterstützten und der islamistischen Streitkräfte im Norden vorbereitet. Dazu gehörten die türkischen Stellvertreter der Syrischen Nationalarmee (SNA) und der Dschihadist Hayat Tahrir al-Sham (HTS) unter Abu Mohammed al-Jawlani. Im Grunde begannen die Soldaten in großer Zahl zu desertieren und die Offiziere, die erkannten, dass die Tage des Regimes gezählt waren, wechselten die Seiten.

Kann das derzeitige Machtvakuum zur Gefahr werden?

Russland, Iran und Hisbollah sind nicht mehr in der Lage, eine koordinierte Rolle in Syrien zu spielen. Ein neues syrisches Regime, das aus einer Koalition von Politikern besteht, könnte jedoch in Zukunft ein starkes, unabhängiges und souveränes Syrien schaffen. Das ist ein Traum, aber eine Möglichkeit. Syrien hat eine Tradition des arabisch-nationalistischen Zusammenhalts und einen starken Zentralstaat. Es hat nicht die so offensichtlich toxisch-sektiererischen Schwächen des Irak und des Libanon. Es könnte also in Zukunft zu einer positiven Kraft in der Region werden.

Wer wird Ihrer Meinung nach anschließend die Macht im Land übernehmen?

Entweder können alle Gruppen innerhalb Syriens zusammenarbeiten, basierend auf ihren historischen Traditionen des arabischen Nationalismus und des Zusammenhalts der Zentralstaaten, oder Syrien wird den Weg des Libanon und des Irak gehen. Ich habe Syrien immer als das einzige Land in gesamt Westasien-Nordafrika (WANA) betrachtet, das zu einem Vorbild für die Region werden und damit zwei Ziele erreichen könnte. Zum einen könnte Syrien den Vereinigten Staaten und der EU eine arabische Alternative zur blinden Unterstützung Israels zu geben, zum anderen auf Augenhöhe mit Israel konkurrieren und möglicherweise gewinnen. Man darf nicht vergessen, dass Syrien eine riesige Diaspora hat. Beide gehen historisch auf die Massenmigration während des Osmanischen Reiches zurück, und in jüngerer Zeit auf 2015.

Dürfen sich die Christen im Land nach dem Sturz sicher fühlen?

Die Christen in der WANA-Region sind immer davon ausgegangen, dass unterdrückende, halbsäkulare Diktaturen ihre einzige Garantie für den Schutz vor islamistischer Unterdrückung und Repressalien sind. Nur im Libanon haben Christen die militärische Macht, sich zu schützen. Ich hoffe, dass die syrisch sprechenden christlichen Araber und Armenier in absehbarer Zukunft eine Koalition mit den anderen ethnischen Gruppen aufbauen können. So können sie das Schicksal ihrer Glaubensbrüder im Irak vermeiden.

Foto: 123rf

Welche Ziele verfolgt die Türkei?

Die Türkei träumt seit vielen Jahren davon, eine neo-osmanische Regionalmacht zu werden. Trotz ihrer aktuellen Erfolge laufen sie jedoch Gefahr, sich selbst zu überfordern. Dies hat dazu geführt, dass Russland in der WANA-Region einen großen Preis bezahlt hat. Die Türkei ist wirtschaftlich sehr schwach und ebenso nicht in der Lage, sich zu weit in die WANA auszudehnen. Ein „Marshall-Plan“ für Syrien wird die tiefen Taschen und die qualifizierte Unterstützung sowohl der USA als auch der EU erfordern.

Wie wird der Sturz Assads international bewertet?

Alles, was in Syrien passiert, hat große Auswirkungen auf den gesamten Mittelmeerraum. In erster Linie wird eine positive Entwicklung in Syrien massiven Druck auf den gescheiterten Staat und die giftig-sektiererischen, Klientelisten im Libanon ausüben. Darüber hinaus können wir endlich eine geordnete Rückführung von syrischen Flüchtlingen diskutieren. Wenn Syrien „funktioniert“ und sich in den kommenden Monaten ein neues Syrien entwickelt, könnte es das Vorbild für eine ernsthafte Beziehung zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn auf der einen Seite und zwischen den USA, der EU und der WANA auf der anderen Seite sein.

Interview: Sandra Fresenius

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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