Auf Sarner Wegen
Acht Jahre nach dem Erfolg von „Die Sarner Straße in Geschichten und Bildern“ hat der Sarner Geschichtsverein das Nachfolgewerk „Auf Sarner Wegen – Abenteuerliche Begegnungen im Sarntal“ veröffentlicht. Das Buch enthält 50 Geschichten, die entweder neu sind oder durch aktuelle Forschungserkenntnisse erweitert wurden. Neu ist auch der Fokus auf die Hauptpersonen der Geschichten, ihre Lebenswege und Schicksale.
Besonders spannend ist die Geschichte Nr. 34 „Operation Forelle – Munitionsfabrikation und Schnäppchenjagd“, die sich vor den Toren der Stadt Bozen in der Sarner Schlucht gegen Ende des Zweiten Weltkriegs abspielte. Dieser Bericht war bereits im Vorgängerwerk enthalten und wurde nun aufgrund neuer, erst kürzlich zugänglicher Unterlagen aus den Archiven der Allied Control Commission der National Archives in Washington über erbeutetes Kriegsmaterial (Captured Enemy Material – Sarentino tunnels) vervollständigt und neu ausgeleuchtet. Um das Bild der Ereignisse um Ende 1944/Mitte 1945 in der Sarner Schlucht annähernd rekonstruieren zu können, waren auch diesmal die wertvollen Ergebnisse der langjährigen Forschungsarbeit von Carla Giacomozzi vom Stadtarchiv Bozen über das Außenlager Sarentino (Sarntal) von unschätzbarem Wert.
Selbst mit über 90 Jahren war Frau Klara Burger eine beeindruckende Erscheinung. Dank ihres gesunden Lebensstils, täglichen Dehnungsübungen und Spaziergängen blieb sie lange rüstig und vital. Immer an ihrer Seite war ihr geliebter Mischlingshund. Klara, bekannt für ihren roten Filzhut mit feiner Krempe und Federschmuck oder ihre Baskenmütze, überlebte ihren treuen Begleiter noch einige Jahre bis 2015. Auch äußerlich hatte sie ein tadelloses Auftreten, von der Kleidung bis zur kunstvollen Schminke an Lippen, Augen und stets gepflegten Augenbrauen. Sie war noch eine der wenigen Frauen, die bei der Messfeier dünne weiße Handschuhe trugen.
Klara, oder besser „Schörgau-Klare“, Jahrgang 1921, hatte in ihrem langen Leben viel erlebt und deshalb auch einiges vergessen. Aber an die Versorgungsfahrten mit dem schneidigen deutschen Offizier konnte sie sich bis zuletzt gut erinnern. Denn in den letzten Kriegsmonaten, Ende März und April 1945, hatte es sich ein Trupp der deutschen Wehrmacht in ihrem Haus, dem Gasthof Bad Schörgau, gemütlich gemacht, um dort auf die amerikanischen Soldaten oder, wer weiß, auf den Endsieg zu warten.
Das Verpflegungs- und Proviantmagazin für die Truppe befand sich in Eppan. Die Versorgungsfahrten starteten von Bad Schörgau bei Bundschen hinaus nach Bozen und weiter dann ins Überetsch, aber nicht über die alte Straße entlang der Talfer in die Sarner Schlucht, vorbei am Sarner Toni, sondern über die 1938 neu gebaute Straße auf halber Höhe durch die Schlucht. Diese war kürzer und sicherer und seit dem Sommer 1944 militärische Sperrzone nur für den Militärverkehr offen.
Deshalb war die adrette Klara auf dem Beifahrersitz der Lastwagenkabine eine der wenigen Menschen im Sarntal, die wussten, was sich hinter den mit Tarnnetzen verhängten Tunneleingängen in der seit Sommer 1944 verbotenen militärischen Sperrzone abspielte: hinter dem Tunnelvorhang tauchte eine komplett eingerichtete, funktionstüchtige Fabrik mit Unmengen von Maschinen und Material für die Herstellung von Kriegsgerät auf.
Die Einrichtung dieser Fabrikanlage in den Sarner Tunnels war Teil des Gesamtplans, der nach dem Waffenstillstand vom 8. September 1943 zwischen Italien und den alliierten Streitkräften vom deutschen Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion (RUK) unter Alfred Speer ausgearbeitet worden war. Ziel war dieses Plans war es, alle Ressourcen der italienischen Industrie für die deutsche Kriegsführung zu mobilisieren; die Bauarbeiten sollten insbesondere von der Organisation Todt, die bereits mit dem Bau der Gustav- und Gotenlinie in Italien betraut war, in Eigenregie oder durch Auftragsvergabe an italienische Baufirmen durchgeführt werden.
Mit der Zunahme der alliierten Luftangriffe Anfang 1944 auf die kriegswichtigen Industrieanlagen Norditaliens wurde die unterirdische Verlegung bedrohter oder frontnaher Anlagen dann zur vorrangigen Aufgabe der Organisation Todt.
Bei der Auswahl neuer Standorte in natürlichen Hohlräumen, alten und neuen Schächten und Stollen, Bunkeranlagen und Verkehrstunnels spielten mehrere Kriterien eine Rolle. Dazu gehörten kurze Entfernungen zu Bahnlinien für den An- und Abtransport von Material und Produkten, sicherer Abstand zum Frontgebiet, Zugang zu elektrischer Energie und die Verfügbarkeit rechtloser Lagerinsassen als Arbeitssklaven.
Für die Flieger nicht einsehbar, weit entfernt von der Frontlinie in den nördlichen Ausläufern des Apennin vor der Poebene, Strom aus den umliegenden Kraftwerken, relative Nähe zum Bahnhof Bozen und zum überfüllten polizeilichen Durchgangslager in Bozen, wo genügend Arbeitskräfte requiriert werden konnten. Außerdem fanden sich die gleichen Rahmenbedingungen wie bei der Verlagerung der Caproni-Werke in die Tunnel der Gardesana Occidentale, der Ostuferstraße des Gardasees, die als Vorzeigebeispiel galt.
Ab September 1944 begannen italienische Baufirmen unter der Oberbauleitung Etsch XVI und Bozen der Organisation Todt mit der Auskleidung der Sarner Tunnels. Die künftige Anlage in der Sarner Schlucht, mit dem Decknamen „Forelle“, sollte das größte und einzige Betriebsgelände in Italien des sächsischen Rüstungskonzerns HASAG (Hugo Schneider AG) werden. Sie war für die Produktion von Munition und vor allem von Panzerfäusten vorgesehen. Reichsrüstungsminister Albert Speer hatte diese „Wunderwaffe“ persönlich im Juni 1944 seinem Führer Adolf Hitler vollmundig angepriesen und eine monatliche Produktion von 1,5 Millionen Exemplaren versprochen. Die italienischen Rüstungsfirmen, die in den Tunneln angesiedelt werden sollten, waren die „Pirotecnico“ des italienischen Heeres in Bologna, die Siderurgica Metallica Italiana in Campo Tizzoro bei Spoleto und Cogne in Imola.
Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie umfangreich und groß die geplante Munitionsfabrik im Sarner Tunnelareal vom 1. bis zum 19. Tunnel war, kann die Auflistung des geplanten Personalbedarfs in einem Kurzbericht der alliierten Militärregierung für die Provinz Bozen vom 18. Mai 1945 geben. Demnach wären für den laufenden Vollbetrieb im Tunnel 3.000 Bauarbeiter, 60 Personen für die Betriebsführung von der Muttergesellschaft HASAG und 80 Stellen für italienisches Fachpersonal und Ingenieure vorgesehen gewesen. Einen weiteren Einblick bieten die 200 Seiten langen alliierten Inventarlisten über das zurückgelassene Material. Die Auflistung der von Februar bis Mitte April 1945 von der Firma HASAG aus Dresden gelieferten oder von den Firmen Pirotecnico, Siderurgica Metallica Italiana und Cogne requirierten und per Eisenbahnwagen nach Bozen geschafften Gerätschaften und Materialien ist beeindruckend. Sie umfasst mehr als 600 Fertigungsmaschinen, 222 Tonnen verschiedener Metalle (Blei, Messing, Eisen, Aluminium), 127 Barrel Fässer (20.193 l) technischer Öle und Fette, Elektromotoren, Generatoren, Transformatoren und mehrere kilometerlange Starkstromkabel. Die Listen enthalten nicht die verschiedenen Werkzeuge und sonstigen Kleinutensilien, wie auch Büromaterial. Man muss jedoch davon ausgehen, dass es sich um eine beträchtliche Anzahl handelte, da diese noch lange im ganzen Land auf dem Schwarzmarkt feilgeboten wurden.
Zeitgleich mit dem Eintreffen der Zugwaggons in Bozen mit Material für die Munitionsherstellung im Februar 1945 wurde am Talferufer in der Gegend um den Wunderhof bei Schloss Runkelstein oder weiter nördlich vor der Fingellerbrücke talaufwärts ein Barackenlager für 500 Häftlinge errichtet. Der genaue Standort ist bis heute ein Rätsel. Das Lager diente dazu, Arbeitskräfte für die anlaufende Panzerfaustproduktion bereitzustellen. Die Errichtung dieses Außenlagers in der Schlucht und vor allem seine Belegung noch vor Produktionsbeginn erklärt sich aus einem bestimmten Umstand. Durch die Unterbrechung der Bahnverbindung über den Brenner infolge der häufigen Luftangriffe konnten die aus dem Süden eintreffenden Häftlinge nicht mehr regelmäßig weiter transportiert werden. So war das Lager in Bozen ständig mit „geparkten“ Häftlingen überfüllt und ein Ausweichlager dringend notwendig.
Die Häftlinge des Außenlagers hatten es trotz fehlender Fabrikarbeit nicht leichter als ihre Leidensgenossen im Hauptlager in Bozen oder in anderen Arbeitslagern des NS-Regimes: Sie hausten in kalten, feuchten und ungesunden Holzbaracken am Talferufer in der Schlucht, wurden bei kärglicher und unzureichender Verpflegung von früh morgens bis spät abends zu Ausbesserungsarbeiten an der Sarner Straße eingesetzt und von ihren italienischen, deutschen oder ukrainischen Aufsehern schikaniert und drangsaliert. Für die geschundenen Häftlinge in den blauen Overalls kam die Erlösung von ihren Qualen unerwartet: Nachdem sie die angelieferten Produktionsmaschinen in den Stollen verstaut und aufgestellt hatten, mussten sie in den letzten Apriltagen den Fußmarsch nach Bozen antreten, wo sie zwischen dem 29. April und dem 3. Mai 1945, dem Tag der endgültigen Auflösung des Bozner Lagers, nach und nach entlassen wurden.
In jenen Maitagen wurde das Tunnelareal vom Arbeits- und Aufsichtspersonal aufgelassen und übrig blieb nur der Verwaltungsdirektor Dr. Smend und einiger Ingenieure der HASAG. Auch die Sarner, Bozner oder Jenesiener Aufseher des Südtiroler Ordnungsdienstes (SOD) verschwanden in ihre umliegenden Heimatgemeinden. Dort wurden sie allerdings auf den Carabinieri-Stationen einbestellt, um sich über ihren Dienst in den Tunnels zu erklären. Nun galt es, einen willigen Zeugen für die abzugebende eidesstattliche Erklärung zu finden, dass sie nie dort gewesen seien. Dies gelang den meisten SOD-Leuten auch. Nicht einmal ein Jahr später, als bekannt wurde, dass die SOD-Dienstmonate für den Rentenanspruch zählen würden und die Amnestie von Togliatti sogar faschistischen und NS-Kriegsverbrechern Straffreiheit gewährte, schickten sich die ehemaligen SOD-Wachmänner mit ihren Zeugen an, die eidesstattlichen Erklärungen zu revidieren und auf dem Gemeindeamt abzugeben.
Auch die uniformierten deutschen Gäste in Bad Schörgau beendeten ihren „Urlaub“ und verabschiedeten sich Ende April 1945 beim Eintreffen der ersten angloamerikanischen Soldaten von ihrer Klara. Einige Soldaten der sich auflösenden deutschen Wehrmacht suchten direkt und ohne Umwege den Weg nach Deutschland. Andere verlängerten ihren Aufenthalt in Südtirol noch bis Mitte Mai in Reinswald. Davon erzählt dann die Geschichte Nr. 35 „Ein Koffer voll Geld“.
Das Buch
Das Buch „Auf Sarner Wegen – Abenteuerliche Begegnungen im Sarntal“ ist im Eigenverlag des Sarner Geschichtsvereins erschienen. Es kann für einen Unkostenbeitrag von 35,00 Euro im Laden Sarner Möbel am Kirchplatz in Sarnthein erworben werden. Alternativ kann es auch zzgl. der Postgebühren zugestellt werden. Bei Interesse einfach eine E-Mail an den Verein unter [email protected] schreiben.
Der Autor
Der Autor Karl Georg Kröss, geboren und aufgewachsen in Sarnthein, ist Obmann des Sarner Geschichtsvereins und Fremdenführer. Heute lebt er mit seiner Frau Claudia, zwei Töchtern und zwei Söhnen im Ortskern von Sarnthein, wo er auch die ganzen interessanten Geschichten aufgestöbert hat und zu hören bekommt.
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