Socken ohne Noppen
Eine kräftige neue Stimme in der Literaturlandschaft Südtirols und darüber hinaus: Greta Pichler surft in ihrem Lyrikdebüt „Salzwasser“ standfest durch fluide Sprachkörper.
Von Christine Vescoli
Es ist ein kleines Buch, fast ein Heft, keine 100 Seiten dick, auf jeder davon ein Prosagedicht und manche Seiten kopfüber, einmal eine Zeichnung zu Luv und Lee, vier Mal zwei Spalten zum Titel „Floß“ und auf jeder Seite horizontal der Vermerk zur Windstärke nach der Beaufortskala. Das heißt dann: „1 Bft/leiser Zug“, „0 Bft/ Windstille, Flaute“, 3 Bft/schwache Brise“, „3 Bft/schwache Brise“, „6Bft/starker Wind“ usw.
Der Gedichtband „Salzwasser“ von Greta Pichler, vor wenigen Tagen im Berliner Verlag Matthes & Seitz, Rohstoffe, erschienen und vergangene Woche erstmals bei Literatur Lana vorgestellt, erweckt den Eindruck eines nautischen Notizbuchs. Da hält jemand chronistisch Beobachtungen zum Wind fest, systematisiert Fachbegriffe der See, kritzelt auf Hintergrund Daten zum Meer und berichtet von einem hybriden Ort aus, vielleicht Punkt, vielleicht Raum, vielleicht Boot, allemal Schwelle zwischen Land und Wasser und Wasser und Wind. Wer das macht, ist penibel am Werk. Wer hier schreibt, die teilt, zerlegt und kontrolliert, um sich zu orientieren. Greta Pichlers Debüt ist ein konzeptionell durchstrukturiertes, schmales, aber dichtes Werk, aus dessen fest gefasster Ordnung die Sprache fließt, eilt, stoppt, drängt, bremst, rennt und flutet. Sie nimmt Anlauf, sie nimmt Fahrt auf, sie prallt wieder ab am Gerüst des Konzepts, manchmal an einem Bild, das Ruhe verspricht, oder sie fließt wie versiegt aus.
Was sein Titel vorgibt, verfolgt der Gedichtband, dem Element nachfühlend, fast in Wellenbewegungen. Im anhaltenden Atem spürt er dem verdächtig sich verhaltenden Meer nach, vielleicht der Ebbe und Flut, dem Treiben und Treibgut auf Wasser, dem Schaum, dem Dreck, den Fischen, den Schiffen, viel mehr jedoch den Zeichen, die sich in all dem anzubahnen scheinen. Hier ist etwas im Kommen oder es ist schon da, vielleicht ein Unwetter, vielleicht Umbruch, vielleicht Unheil. Etwas bewegt sich auf einen Umschwung zu: „ganz anders wird es kommen“, „es hat ein ende mit dem tau“.
Wenn etwas aber die ganze Zeit „etwas“ und „es“ bleibt, das nicht benennbar wird, wenn sich Andeutungen häufen und Anzeichen deutlicher werden, wird Gefahr spürbar. Das lyrische Ich, das hier auf Lauer liegt, beobachtet Meer, Wasser, Ufer, die „Algen im Argen“, es beobachtet den Sprung der Fische, „die Saugnäpfe an allen Flossen, Wellen und Korallen“, es beobachtet die Föhnfische am Himmel, die Winde, die Windstille, die Flaute und registriert hellwach die anschwellende Fülle von allem. Und wenn nicht nur vom Wasser, sondern auch mit den Winden beunruhigende Ahnung aufkommt, sind wir gewarnt. Denn wenn etwas in der Luft liegt, ist es meist nichts Gutes.
Nichts kann diese Ahnung trügen, die die hoch konzentrierten Gedichte Greta Pichlers vorantreibt und teilweise dystopisch einfärbt. Wie in einem Logbuch verzeichnet das lyrische Ich, diszipliniert und sondierend, Veränderungen, Unsicherheiten, „Koordinaten und Zeiten an unterschiedlichen Fäden“. Kühn bewegt es sich in Fachbegriffen und nimmt nicht weniger genau eigene Körperänderungen, Körperbewegungen, Körperverhalten im Ungewissen wahr, einen Körper im Flüssigen und Fluiden, am „Berührungspunkt von Meer und Wind“, „am wasser entlang“.
So beobachtend klar, wie einmal der Flaneur, sammelt das Ich die Zeichen einer anstehenden Wende ein. Aber niemand ist hier mehr am Rand wie einmal jene umherstreifende Figur des Dandys, die aus der distanzierten Beobachtung seine Reflexionen gewinnt. Niemand ist mehr außerhalb des Geschehens, niemand davon unberührt. „ich vervielfacht zu wir. Du eigentlich ich. du welt. du ach. du gesellschaft, oh! du ans meer, […] wir alle, wir hier, wir zwei. […] wir, die wir grenzenlos, wir, die los, auf zur grenze!“
Was immer da kommt und kippt, ob Wetter, Welt oder Umwelt, es gilt, sich vorzubereiten und in der Vorwarnung Orientierungspunkte zu suchen für den Richtungswechsel. „Wissen wie“, heißt es dann, und als ob das nicht genügte: „wissen wie genau“.
„Es kommen härtere Tage“, schrieb Ingeborg Bachmann. „Wirf die Fische ins Meer. Lösch die Lupinen“. Greta Pichlers Ich schlägt nie den Ton des Appells wie Bachmann an. Aber es macht sich bereit für ein Tun, wenn es soweit ist. „erst mal schattenseiten im dunkeln lassen. Fischfutter in flockenform. Dann taschenlampe greifen. Formstabile chips.“ Oder es schließt einen Pakt, „wenn der Abend dann für eine da ist, gibt sie den anderen bescheid“.
Auch wo sie um 5 vor 12 zu stehen scheinen, haben die Gedichte von Greta Pichler eine beeindruckende Standfestigkeit. Sie peitschen nie auf, wo etwas im Ansturm ist, und toben nicht, wenn die Welt in bleibende Hitze oder entsetzliche Kälte fällt oder wenn sie in eine Wende rutscht, auf Socken ohne Noppen. Sie halten einen Zustand fest, dessen Kippe sie beinahe in Zeitlupe einfangen, auch wenn ihr poetischer Puls rast. Dabei halten sie jonglierend eine Offenheit aufrecht, die sie den (mitunter etwas überreizten) Metaphern schuldet, und dann und wann sind sie auch witzig. Dann kann die Wende auch mal eine Rettung sein oder schlichtweg ein Panda, der aus der Reifenpanne hilft.
Allemal bewegen sich die Textgewebe aus der hoch poetischen und musikalischen Spannkraft heraus. Sie setzen sich aus einer geschulten und präzisen Spracharbeit zusammen, die nichts unreflektiert geschehen lässt und alles Gesagte aus einem fließenden, treibenden und pulsierenden Sprachköper heraus presst. Der Sog, den sie dabei entwickeln, wird noch einmal deutlich im Vortrag der Performerin, die 2022 den Open Mike, wichtigen Wettbewerb für deutschsprachigen literarischen Nachwuchs, gewann, als sie Ausschnitte aus „Salzwasser“ vortrug. Hier macht sich eine Dichterin die suggestive Kraft der Sprache ganz zu eigen und surft, segelt, spielt damit in großer Lust und Souveränität. Ein beeindruckendes, begeisterndes Debüt und eine kräftige Stimme in der Literaturlandschaft Südtirols und darüber hinaus.
Greta Maria Pichler: Salzwasser. Verlag Matthes-Seitz/Rohstoff, 2024 Berlin, 84 Seiten.
Zur Person
Greta Maria Pichler, 1996 in Bozen geboren, studierte Philosophie an der Universität Wien und Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Sie war Mitherausgeberin der JENNY. Texte von ihr wurden in Literaturzeitschriften, Anthologien und im Radio veröffentlicht. 2022 war sie Preisträgerin des 30. open mike.
Ähnliche Artikel
Kommentar abgeben
Du musst dich EINLOGGEN um einen Kommentar abzugeben.