Jung, online, spielsüchtig
Mehr als jeder zweite Suchtkranke ist computerspielsüchtig. Oskar Giovanelli, Psychologe beim Verein „Hands“, erklärt, wer besonders oft betroffen ist und welche Ursachen hinter Gaming Disorder stecken.
Tageszeitung: Herr Giovanelli, kann man heute einen zunehmenden Rückzug von jungen Menschen beobachten?
Oskar Giovanelli: Bei unserem 2019 gegründeten Verein „Hands Onlus“, der sich mit allen legalen Abhängigkeitserkrankungen, wie beispielsweise Alkohol, Medikamente oder Glücksspiel beschäftigt, können wir feststellen, dass sich die Klientel bis heute insgesamt vervierfacht hat. Waren es vor fünf Jahren noch 48 Patienten, gab es 2023 bereits 122. Von diesen sind 59 Prozent von sozialem Rückzug und Gaming disorder betroffen.
Was ist Gaming Disorder und wie unterscheidet es sich von Hikikomori?
Beide Störungen werden häufig verwechselt, weil sie ähnliche Merkmale zeigen, wie das Verweilen im Haus und eine Veränderung des Schlaf-Wach-Rhythmus. Aber nur 30 Prozent der Hikikomori nutzen das Internet exzessiv. Während bei Gaming Disorder das Eintauchen in die virtuelle Welt im Vordergrund steht und der Jugendliche sich mit dem Spiel und seinem Avatar identifiziert, resultiert der Rückzug bei Hikikomori oft aus sozialen Schwierigkeiten. Das Hauptproblem beim Hikikomori ist der soziale Rückzug. Er nutzt das Internet zwar als Zeitvertreib, es ist aber nicht die Ursache für seinen sozialen Rückzug wie es beim Gaming Disorder der Fall ist.
Wer ist besonders häufig von Gaming Disorder betroffen?
Der Großteil ist männlich und gehört zur Mittel- bzw. Oberschicht. Es handelt sich bei Gaming Disorder um eine eher neue Abhängigkeitserkrankung. Die ersten Bücher über dysfunktionalen Computer- und PC-Gebrauch, wie dieses Phänomen zunächst genannt wurde, sind in Deutschland 2010 erschienen. Und es gibt keine 60-Jährigen, die mit Computerspielen oder sozialen Medien aufgewachsen sind, daher betrifft diese Abhängigkeit eher jüngere Personen, denn eine Konditionierung von Verhaltensweisen erfolgt üblicherweise im Jugendalter.
Was sind die Ursachen für Gaming Disorder?
Es handelt sich um eine soziokulturelle Entwicklung der neuen Generation, die auf den neuen digitalen Möglichkeiten basiert. Durch den Einzug der sozialen Medien im Jahr 2007 wurde neben der Möglichkeit sich zu informieren erstmals auch der Austausch von Informationen auf dem digitalen Weg möglich. Im Grunde kann man alles vom Zimmer aus erledigen, ohne das Haus zu verlassen. In den sozialen Medien oder auch in den Computerspielen ist man immer in Interaktion. Die heutige Generation wächst damit auf. Und ein Spielgewinn oder ein Like auf ein Foto bei Instagram sorgen jedes Mal für eine Ausschüttung des Glückshormons Dopamin. Neue Studien konnten nachweisen, dass die Ausschüttung im digitalen Raum sogar höher ist als in der analogen Welt. Daher entsprechen Werte, mit denen frühere Generationen aufgewachsen sind, wie „Ohne Fleiß kein Preis“ oder „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, heute nicht mehr der Wahrheit. Man entwickelt keine Geduld und keine Frustrationstoleranz mehr, weil jeder Moment der Leere mit etwas gefüllt werden kann, was ich in der Hosentasche habe und was mich bespaßen kann. Langeweile wird nicht ausgehalten. Die Betroffenen sind gewaltbereiter, wenn etwas nicht so läuft, wie sie es gerne hätten. Durch die digitalen Möglichkeiten ist man gewohnt, alles immer zu bekommen, wie und wann man es will. Die Corona-Pandemie hat das Phänomen des Gaming Disorder noch zusätzlich verstärkt und beschleunigt.
Welche Eigenschaften zeigen die Abhängigen?
In der Therapie begegnen uns vier Haupteigenschaften. Zum einen sind es Langeweile und Motivationsprobleme. Ganz stark sehen wir auch Leistungsangst, Versagensängste und Prokrastination. Die Patienten mussten nie darüber nachdenken, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen, weil immer irgendein Gerät vorhanden war, welches ihnen gesagt hat, was sie zu tun haben. Daneben sehen wir bei den Abhängigen häufig soziale Phobien und Emotionsregulation.
Wie können Eltern die Erkrankung erkennen?
Es geht nicht um die Zeit, die die Kinder und Jugendlichen vor dem Computer sitzen und spielen, sondern vielmehr um den Kontext, also ob das Kind Freunde hat, ob es aus dem Haus geht, Sport treibt oder einem Verein angehört. Weitere Hinweise können ein signifikanter Einbruch bei den Schulleistungen oder bei der Schulfrequenz sein. Die Betroffenen ziehen sich sogar zu Hause immer öfter in ihr Zimmer zurück.
Wie kann das Umfeld den von Gaming Disorder betroffenen Kindern und Jugendlichen helfen?
Spätestens eine Stunde vor dem Schlafengehen sollte das Gerät beiseite gelegt werden, damit der Schlaf nicht gestört wird. Wichtig sind außerdem Rituale in der Familie, wie das gemeinsame Essen. Oft muss mit den Eltern mehr gearbeitet werden als mit den Kindern oder Jugendlichen, weil es schlicht an Hausregeln fehlt. Es ist kein Problem, wenn ein junger Mensch mal sieben Stunden vor dem Computer sitzt, wenn er am nächsten Tag sieben Stunden mit Freunden ins Schwimmbad geht. Es braucht immer ein Gleichgewicht zwischen analoger und digitaler Welt. Genauso falsch wäre es, die Kinder ganz von der digitalen Welt fernzuhalten. Es kommt immer auf das richtige Maß an.
Interview: Sandra Fresenius
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