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Mit drei Herzen denken

Fotos: Florian Dariz

Neuer Besucher:innen-Rekord zum zehnjährigen Bestehen der Summer School Südtirol: 640 Menschen kamen nach Feldthurns.

Neuer Besucher:innen-Rekord zum zehnjährigen Bestehen der Summer School Südtirol: Von Sonntag, 25. bis Freitag, 30. August 2024 fand auf Schloss Velthurns die Summer School Südtirol statt.

Zum Thema „Geschlechter werden & wieder loswerden – Generi in cammino“ kamen über 640 Menschen und damit fast zehn Prozent mehr Gäste als im Jahr zuvor nach Feldthurns. Schon zehn Mal haben die Schriftstellerin und Dramatikerin Maxi Obexer und ihre Mitstreiter:innen Anna Heiss, Carmen Torggler, Judith Waldboth und Maria Lobis Themen aufgegriffen, die den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs prägen. 

Bei ihrer Eröffnungsrede sagte Summer-School-Gründerin Maxi Obexer: „Als Veranstalterinnen, die an den Erfahrungen und am Erkenntnisschatz derjenigen interessiert sind, die notorisch überhört, übersehen, ungefragt blieben – kamen wir an der geschlechtlichen Aufteilung der Welt in Männer und Frauen, Weiblichkeit und Männlichkeit nie vorbei. Denn sie ist ursächlich verantwortlich für sehr vieles, das nicht sein darf, obwohl es sich vor unseren Augen abspielt.“

Es gebe noch erstaunlich viel zu entdecken. Während manche großen Irrtümer, an denen die Menschheit sich entlang erzählte – wie dem Mythos von der männlich-menschlichen Überlegenheit über alle Geschöpfe – mehr und mehr bloßgelegt und entzaubert seien, stünden wir in Vielem anderem noch immer am Anfang. 

Einer der etlichen unvergesslichen Momente waren die Lesungen der weltbekannten Schriftstellerin Erica Fischer.

Die Autorin von „Aimée & Jaguar“ hat am Eröffnungstag (25/08/24) mit Humor und Charme aus ihrem neuen Werk „Spät lieben gelernt. Mein Leben“, gelesen, das im vergangenen Jahr anlässlich ihres 80. Geburtstags erschienen ist. Am Montag las sie mit Maxi Obexer aus dem Kollektivroman „Wir kommen“, in dem 18 Autorinnen mehrerer Generationen, darunter Erica Fischer und Maxi Obexer, offen, frivol und höchst unterhaltsam über weibliches Begehren schrieben. 

Prof. Dr. Nivedita Prasad fesselte am Montag (26/08/24) das Publikum mit ihrem Vortrag. Zum Thema Intersektionalität beschrieb sie das gleichzeitige Überschneiden und Zusammenwirken mehrerer Diskriminierungen wie ethnische Herkunft, soziale Lage, Geschlechtsidentität, Beeinträchtigung. Sie sprach von den Auswirkungen auf das Leben von Menschen, insbesondere in Bezug auf Machtverhältnisse, Diskriminierung und Privilegien. Die einzelnen Kategorien können daher nicht isoliert voneinander wahrgenommen werden. 

Auf die Fragen: Wer ist Familie? Und wer darf Familie? haben Sandra Steinegger und Claudia Zingerle am Dienstag (27/08/24) Antworten gegeben. Die beiden leben in Vahrn, sind Mamas eines kleinen Sohnes, arbeiten im Verein Famiglie Arcobaleno AltoAdige-Regenbogenfamilien Südtirol mit und haben vom schwierigen Weg berichtet, eine Familie zu werden. Sie erzählten vom Kampf um rechtliche Anerkennung in Italien, von ihrem Einsatz gegen Diskriminierung und für mehr Rechte in einem Staat, der ihre Existenz nicht anerkennt.

Zum Thema „Mein queeres Südtirol“ berichteten am Mittwoch (28/08/24) Fiore Sinzar Hafner von Centaurus Arcigay Alto Adige, Madu Alber und Kae Sordi (Vorstandsmitglieder von Alto Adige Pride Südtirol) über ihre Kämpfe, ihre Solidarität und über die 1. Pride Southtyrol, die für Juni 2025 geplant ist. Zur Frage „Wer unterstützt, wer sensibilisiert, wer vertritt?“ gab Priska Garbin von der Antidiskriminierungsstelle Auskunft und Einblick in die aktuelle rechtliche Lage. Diese werde aufgrund der rechtspopulistischen Regierung zunehmend schwieriger.

Ins Tierreich führte am Donnerstag (29/08/24) Prof. Dr. Ismeni Walter (moderiert von Nina Schröder) mit der Frage: Wie strikt halten sich die Tiere an weiblich oder männlich? Die Antwort verblüfft: „Vorstellungen von dem, was normal oder schicklich ist, haben unter Tieren keine Bedeutung“, sagte die Umweltjournalistin (WDR, arte und andere). Die Erfindung des Geschlechts sei ein Riesencoup der Evolution gewesen. Dabei gibt es im Tierreich fast nichts, was es nicht gibt: binäre Geschlechter, Trans- und Intersexualität, Zwittertum. Die Professorin berichtete von transsexuellen Anemonenfischen und schwangeren Seepferdchenmännern, von promiskuitiven Delfinen, Vögeln und Fischen mit drei und mehr Gendern, von Intersex-Hausschweinen. Ihre zentrale Botschaft lautete: Was sich in der Natur etabliert, hat auch seinen Sinn – egal, was der Mensch davon hält.

Zwei Lesungen ergänzten die wissenschaftlich ergreifende Analyse: Rut Bernardi las zu Beginn der Veranstaltung aus ihrem neuesten Buch „Katzenhaftes“. Mit der Lesung von Maxi Obexer aus ihrem neuesten Roman „Unter Tieren“ endete ein Abend, der tief blicken ließ – in die enorme tierliche Vielfalt und in manch menschliche Begrenztheit. 

Am Freitag (30/08/24) gab Autorin und Dramaturgin Christine Richter-Nilsson Einblicke in die Theatergeschichte der Rock- und Hosenrollen und in queer-feministische Überschreibungen im Theater. Queere Besetzungen haben eine lange Tradition und gehen bis auf das antike Theater zurück, wo ausschließlich Männer an der Rampe rezitierten.

Bis ins 17. Jahrhundert war es Frauen nicht erlaubt, die Bühne zu betreten: In der neuen Dramatik des 21. Jahrhundert werden viele Klassiker bewusst radikal umgeschrieben. Dramatiker:innen überschreiten dabei sozial konstruierte Gender-Grenzen und überschreiben klassische Figuren, um Geschlechter- und Theaterkonventionen aus einer feministischen, gender-kritischen und postkolonialen Perspektive zu hinterfragen.

Zu einer Paneldiskussion trafen sich anschließend Christine Richter-Nilsson, Moritz Beichl, Autor und Regisseur, und Tommy Fischnaller-Wachtler, Südtiroler Jungschauspieler und Nestroy-Preisträger mit Toni Bernhart. Am Beispiel von Effi Briest unterhielten sie sich über manche, aus heutiger Sicht problematische Entscheidung von Theodor Fontane. Moritz Beichl hatte das zum Anlass genommen, um mit seiner „Effie“ den männlichen Blick auf Frauen zu demaskieren. 

Nach den Vorträgen, Diskussionen, Lesungen, Konzerten und Performances im Schlossinneren ging es im Hof von Schloss Velthurns mit den anregenden Themen jeweils weiter, gestärkt von Getränken und einem warmen Gericht. 

Der politische Aspekt: Von den Grundrechten, den Frauenrechten zu den Rechten für Queere: Das Queere sei die konsequente Weiterführung des feministischen Gedankens, sagte Summer-School-Gründerin Maxi Obexer. Die Diffamierung von Queerness, Gender- und Wokeness, auf die sich sämtliche rechtspopulistische Parteien und Politiker:innen stürzen, ziele letztendlich auf die Abschaffung von Grundrechten, für die Frauen und Queere lange gekämpft haben.

Der poetologische Aspekt: Ein Thema, das über die gesamte Veranstaltung – einschließlich der Werkstätten – gespannt war, befragte die Möglichkeiten des „Queeren Denkens“, die sich aus der Überwindung der binären Entweder-Oder-Konstruktionen im Denken und Handeln eröffnen. Das gilt auch für die literarischen und dramatischen Formen, oder in Bezug auf die Figuren. Motto und Symbol war der Oktopus, der mit drei Herzen denkt – und mit einem Gehirn in jedem Tentakel. 

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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