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Blumenkorso und Wurstelprater

Der Pianist Yefim Bronfmann und Dirigent Manfred Honeck mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra im Kursaal Meran: Explosionsartiger Applaus (Foto: Damian Pertoll)

Der Pianist Yefim Bronfmann brillierte beim südtirol festival meran mit Rachmaninoffs 3. Klavierkonzert und Manfred Honeck ließ mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra Mahlers Puppen tanzen.

 Von Hubert Stuppner

Das Pittsburgh Symphony Orchestra, das Experten zu den amerikanischen „Big Twelve“ zählen (New York, Boston, Chicago, Cleveland, Los Angeles, San Francisco, Detroit, Minnesota, Philadelphia, Atlanta, PIttsburgh, Baltimore) präsentierte sich beim südtirol festival meran mit einem Programm, das von den Werken und ihrer Besetzung her nicht populärer und glamouröser hätte sein können: ein Programm, das USA-Spitzenorchester, wenn sie auf Tournee gehen, gerne anbieten: Rachmaninoff und Mahler, nicht etwa Gershwin und Bernstein. So, wie auch die Wiener, wenn sie nach Japan reisen, ebenfalls mit „Rach Drei“ und Yefim Bronfman als Solisten reisen. Schrumpft also das Repertoire zu Gunsten einer Art Luxus-Klassik? Der Schein trügt. Ein Blick auf den „2022 USA Orchestra Repertoire Report” erzählt eine andere Geschichte: von 2015 bis 2022 von den 189 USA-Orchestern insgesamt 5.470 gespielte Werke mit zahlreichen neuen Stücken (Works by living composers almost doubled, und sogar „Works by women composers and composers of color living and deceased“) um 400 Prozent gesteigert!

Es liegt also nicht an den Orchestern, wenn sie im Sommer im Wunschkonzert-Format auftreten. Zwischen Spätsommer und Frühherbst gilt es frei nach Hölderlin „Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!  Und einen Herbst zu reifem Gesange mir“ – Da liegt den besten Orchestern nicht die Erweiterung des Erfahrungshorizonts am Herzen, sondern der Hochglanz, mit dem sie die Meisterwerke als bleibenden Besitz der Menschheit zelebrieren.

Rachmaninoffs 3. Klavierkonzert, in dem pro Sekunde die höchste Dichte an Anschlägen vor allen anderen Klavierkonzerten erreicht wird, gehört zu dieser Art Präferenz-Klassik. Die millionenfachen Youtube-Likes liefern die Kriterien zu dieser Wahl: das Dritte Rachmaninoff-Konzert mit Argerich-Chailly wurde in 13 Jahren 5,1 Millionen mal abgerufen, dasselbe Konzert mit Trifonov-Chung in 6 Jahren 2 Millionen mal, das mit Bronfman und Gergiev in 20 Jahren 1,7 Millionen mal. Noch öfters Mahlers „Erste“, die jugendlich unbeschwerte und sommerliche Symphonie: mit Dudamel, in 3 Jahren, 6,8 Mill. mal angeklickt, mit Bernstein, in 3 Jahren, 6,7 Mill. mal, und mit Abbado in 9 Jahren, 2,5 Mill. mal.

Yefim Bronfmann war also, was das 3. Klavierkonzert von Rachmaninoff betrifft, eine luxuriöse Besetzung. In Pianisten-Kreisen misst man gerne den ersten Satz bis zur Kadenz wie einen 100-m-Lauf: Wer ist bis zu diesem Schnittpunkt der Schnellste? Laut dieser gewiss fragwürdigen Rangordnung käme Rachmaninoff selbst (1939 mit Eugene Ormandy und 30 Minuten-Gesamtdauer) mit nur 9 Minuten auf Platz eins. Es folgt Horowitz, der in seiner 33 Minuten dauernden Einspielung mit Fritz Reiner von 1930 für denselben Abschnitt nur 18 Sekunden hinter Rachmaninoff zurück liegt. Mit Gergiev und den Wienern auf einer Japan-Tournee 2004 findet man Bronfman auf Platz 3 bei 9:42 Min. Allerdings 17 Jahre danach in einem anderen Mitschnitt bereits bei 10:42. Der alternde Horowitz war nach seinem Comeback mit Zubin Mehta bei einer Gesamtdauer von 42 Min. mit 10.26 nur wenig besser als Bronfman 17 Jahre nach Japan.

Es gilt: Kein anderes Konzert hat im Lauf der Jahrzehnte die Dauern so gedehnt, wie dieses. Zwischen Rachmaninoff (30 Min.) und Kissin (54 Min.) liegen ganze 24 Minuten. Dazwischen die wohl schönsten Aufnahmen mit Gilels, Weissenberg, Van Cliburn, Argerich, Volodos und Trifonov u. a. m.

In Meran bestätigte der nun 66-jährige Bronfman mit einer Gesamtdauer von knapp 38 Minuten seine Klasse. Er dankte es dem begeisterten Publikum mit einer Zugabe, dem g-moll-Rachmaninoff-Präludium op.23/5 „Alla marcia“, das auch das „kriegerische“ genannt wird, nachdem Gilels es für die russischen Soldaten im Krieg gegen Nazideutschland spielte.

Das Konzert erlebte seinen Höhepunkt im zweiten Teil des Abends, als der Chefdirigent des Pittsburgh Orchestra, Manfred Honeck aus Vorarlberg, mit Mahlers „Erster“ Publikum und Orchester wie ein Zirkusdompteur in die Mangel nahm und zu aller Vergnügen Mahlers Puppen tanzen ließ. In dieses lebendige symphonische Panoptikum blies von Anfang bis Ende Wiener Luft und wirbelte die gewohnten Klischees gehörig durcheinander. Der Dirigent schonte weder die Musiker noch die Musik, ging die heftigen Stellen hart an, machte mal den Bläsern die Hölle heiß, ging dann wieder den Streichern ans Leder und hielt alle Fäden des polyphonen Geschehens in der Hand. Er dirigierte mit all seinen Gliedmaßen, mit Beinen, mit Nacken, mit Ellebogen und alles wie im Handumdrehen. So lebendig klingt Mahlers Musik, wenn sie mit Flöten und Klarinetten-Gezwitscher einen Schritt zurück in die Natur macht, aus der sie ja kommt, und einen Schritt voraus in die Literatur. Man nennt das Verdinglichung und meint in Wahrheit Versinnlichung.

Auf diese Weise erzählte Honeck Mahler-Geschichten, von denen andere Dirigenten nur träumen können. Mal gibt sie sich ganz innerlich und zart, dann wieder vorlaut und rustikal: eine Dramaturgie, in der sie ständig Grimassen schneidet, zwischendurch schmollt und dann leise und wehleidig zurückkommt. Herrlich all die artigen Knickse und „Küss die Hand!“, Wiener Schmäh und Wiener Schmeichelei. Es war Musik wie beim sommerlichen Open air, mal Blumenkorso, dann wieder Wurstelprater.

Wenn der Mahler Spruch „Ich liebe nur die Menschen, die übertreiben. Die, die untertreiben, interessieren mich nicht“, auf je ein Konzert zutraf, auf dieses Konzert traf er zu. Wo Manfred Honeck das her hat? Er spielte als Bratscher mit den Wiener Philharmonikern und wurde später Assistent von Claudio Abbado. Doch sein Mahler-Verständnis wird wohl eher von Bernstein stammen, der in den Achtziger Jahren ganz Wien „Mahlerisch“ unsicher gemacht hat und den unsteten Mahler in symphonischer Klezmer-Manier und im romantischen „Kapellmeister Kreisler“- Habitus hoffähig gemacht hat. Der explosionsartige Applaus gab ihm und den phänomenalen Pittsburghern recht.

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