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Wie leben mit dem Bär?

Wie nah ist gefährlich nah? Foto: Stefania Collalto

Seit der 26-jährige Trentiner Andrea Papi beim Joggen von einem Bären getötet wurde, eskaliert der Streit um die Bären in unseren Wäldern. Bärengegner und Tierschützer stehen sich in einem aufgeheizten Klima unversöhnlich gegenüber. Der Dokumentarfilmer Andreas Pichler lässt in seinem Film „Gefährlich nah. Wenn Bären töten“ alle zu Wort kommen.

Tageszeitung: Herr Pichler, schon mal einem Bären Aug in Aug gegenübergestanden?

Andreas Pichler: Nicht Aug in Aug, aber vor Jahren bin ich in Rumänien durch einen Buchenwald gewandert und da waren deutliche sichtbare frische Bärenspuren zu bemerken. Damals habe ich verstanden, dass man anders durch die Natur geht, wenn man weiß, dass so ein großes Tier da lebt. Man wird aufmerksamer und nimmt die Natur nicht mehr wie ein erweitertes Sportgerät wahr. Der Bär ist insofern auch eine Chance, unsere Berge und Wälder nicht nur als erweiterte Turnhalle zu sehen. Richtig gesehen habe ich einen Bären in sicherer Position von einem Aussichtsturm aus. Selbst aus dieser Entfernung hat man die Kraft dieser Tiere gesehen, wie gemächlich sie sich bewegen und wie sie von einem Moment auf den anderen unglaublich schnell sein können. Während ich den Film im Trentino gedreht habe, konnte ich miterleben, wie ein Bär eingefangen wird. Die Laute, die er von sich gibt, gehen einem durch Mark und Bein.

War die tödliche Attacke auf den Jogger Andrea Papi Auslöser für Ihren Film „Gefährlich nah. Wenn Bären töten“?

Nein, ursprünglich wollte ich einen Film über den Bär  M49 drehen, der 2020 aus dem Gehege Casteller südlich von Trient ausgebrochen ist. Nach diesem tragischen Ereignis habe ich den Film komplett umgeplant.

Der Film beginnt mit den Eltern des toten Andrea Papi.

Regisseur Andreas Pichler: Vielleicht lynchen sie mich am Ende, weil man es bei so einem Thema niemandem Recht machen kann. (Foto: Julia Sellmann)

Den Eltern geht es in erster Linie um die Schuldfrage. Wer ist schuld am Tod unseres Sohns? Sie streben ein Gerichtsverfahren gegen die Verantwortlichen an, aber ob das jemals zustande kommt, ist sehr zweifelhaft. Ganz einfach, weil es nicht einen Schuldigen gibt, sondern ein ganzes Gemengelage an Verantwortlichkeiten. Ihren Schmerz verarbeiten sie, indem sie sich im Comitato Andrea Papi engagieren, das einerseits ein Gerichtsverfahren gegen die Verantwortlichen anstrebt, andererseits aber auch Unterschriften für ein Referendum gegen die Präsenz von Bären sammelt. Dieses Komitee will ganz einfach erreichen, dass die Bären wieder aus dem Gebiet verschwinden. Nicht, weil sie sie prinzipiell nicht wollen oder mögen, sondern weil Mensch und Bär sich in diesem Gebiet einfach zu nahe kommen und weil es zu viele geworden sind. Das ist auch die Position des Landeshauptmannes Maurizio Fugatti. Politisch hat sich die Stimmung durch den Tod von Papi gegen die Bären gedreht, aber es gibt schon auch seit längerem Ängste unter der Bevölkerung. Ich habe mit einigen Wanderern und Joggern geredet, die mir gesagt haben, dass sie schon seit langem nicht mehr in der Gegend wo Andrea Papi gestorben ist Sport betreiben.

Der Vater schildert sehr dramatisch, wie der Bär seinen Sohn zugerichtet hat.

Die Eltern sind traumatisiert, das ist mehr als nachvollziehbar, aber niemand kann genau sagen, wie es passiert ist. Andrea Papi ist wahrscheinlich rasch und leise durch den Wald gelaufen und an einer für beide uneinsichtigen Stelle mit dem Bär quasi zusammengestoßen. Der fühlte sich angegriffen und hat den jungen Mann getötet. Er hatte schwere Verletzungen im Gesicht und am Nacken und ist verblutet, ansonsten war er heil. Ein Braun-Bär frisst keinen Menschen.

Ein von vielen erhobener Vorwurf lautet, dass zu wenig Aufklärungsarbeit geleistet wurde.

Das stimmt zum Großteil. An vielen Orten gibt es zwar Schilder, es werden Flyer verteilt und auf der Webseite der Forstbehörde kann man sich informieren, wo gerade Muttertiere mit Jungen unterwegs sind. Aber man muss sich halt schon auch die Mühe machen, die Informationen zu lesen und diese dann auch befolgen. Wahrscheinlich hätte es eine richtig drastische Informationskampagne gebraucht, um auf die Gefahren hinzuweisen. Zum Beispiel, dass man lieber zu zweit als allein durch den Wald gehen sollte oder wie man sich verhalten soll, wenn man einem Bären begegnet. Seit die Provinzregierung die Leitung des Bärenprojekts übernommen hat, hat es Versäumnisse gegeben, zweifellos. Zum Beispiel hätte man die Müllbehälter bärensicher machen können, um sie nicht anzulocken. Das ist nicht passiert.

Trotz der hohen Zahl von über 100 Bären kommt es sehr, sehr selten zu Begegnungen mit Bären.

Bären sind Opportunisten, der Großteil von ihnen ist total scheu, sie bleiben in sicherer Entfernung zum Menschen. Der sogenannte Problembär, wie er vom bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber damals getauft wurde, ist derjenige, der nicht in dieses Schema passt. Er hat aus unterschiedlichen Gründen die Scheu verloren und kommt den Menschen zu nahe. Die Gegenwart der Bären spüren natürlich in erster Linie die Bauern, wenn Bienenstöcke geplündert werden oder Vieh gerissen wird.

Die Bauern haben sich in den 1990er Jahren am heftigsten gegen das Projekt Life Ursus, die Wiederansiedlung von Bären im Trentino, gewehrt.

Stimmt und jetzt hört man Stimmen, dass sie sich noch viel zu wenig gewehrt haben. Tatsächlich gab es damals mehrheitlich im Trentino eine positive Stimmung oder zumindest eine hohe Toleranz dem Projekt gegenüber. Das ist jetzt leider verspielt.

Damals hat niemand vorausgesehen, dass die Bären sich so schnell vermehren werden.

Das hat in der Tat niemand für möglich gehalten. Mittlerweile weiß man, dass die weiblichen Tiere in der Gegend bleiben und nicht weiterwandern. Die männlichen Bären werden oft von stärkeren verdrängt und wandern weiter, kommen aber häufig auch wieder zurück, weil sie in anderen Gegenden der Alpen keine Weibchen finden. Das bedeutet, dass die Reproduktion immer in der Gegend des Trentino stattfindet wo die ersten Bären freigelassen wurden. Mit der Folge, dass sich die Population fast gänzlich auf das östliche Trentino beschränkt hat. Man darf nicht vergessen, dass im Trentino weltweit die dichteste Bärenpopulation im Verhältnis zur Einwohnerzahl lebt.

Wäre Sterilisierung ein Weg, um die Population einzudämmen?

Kaum. Ich habe mit einem Veterinärmediziner gesprochen, der die Sterilisation von Bären als sehr komplizierte Sache bezeichnet. Und was wäre damit gelöst: Da wären dann Tiere in der Gegend, die sich nicht mehr fortpflanzen können, aber trotzdem noch eine Gefahr darstellen.

Zu den beeindruckenden Szenen in Ihrem Film gehört die Demonstration der 300 Tierschützer, die vor dem Gehege der Bärin JJ4 militant deren Freilassung fordern.

Das waren in der Hauptsache Demonstranten aus der Stadt, nicht aus der Gegend. Die treten in der Tat militant bis fanatisch auf. Viele davon fühlen sich als Verteidiger der Schwachen, womit sie ja auch Recht haben, aber sie schießen halt oft über das Ziel hinaus. Man hat den Eindruck, sie haben zur Tierwelt insgesamt eine Beziehung wie zu ihren Haustieren. Alle haben Hunden und Katzen und mit denen ist alles schmusig und nett, aber wenn es um die Tierwelt an sich geht, ist es natürlich hoffnungslos naiv. Man muss auch sagen, dass einige davon auch vor Drohungen und Einschüchterungen der Förster und des Bürgermeisters nicht zurückscheuen. Bei einer Demonstration ist ja fast zu einer Schlägerei mit den Bauern gekommen. Also es gibt in dieser Szene auch eine gewisse Gewaltbereitschaft. Manche möchten gleich die Verfassung umschreiben und jedem Lebewesen die gleichen Rechte wie uns Menschen zuschreiben. Dahinter steckt auch ein Konflikt zwischen urbaner und ländlicher Gesellschaft.

Beeindruckend nüchtern in dem Film sind die Förster, die die Bärenpopulation betreuen.

Die Förster sind diejenigen, die wirklich Bescheid wissen und in dem ganzen aufgeheizten Klima die Ruhe bewahren, obwohl sie von allen Seiten extrem unter Druck stehen. Sie sind der eigentliche Kern des Films, oder die eigentlichen Helden, wenn man so will. Sie sind sehr kompetent, sehr pragmatisch und gleichzeitig tragische Figuren, weil sie zwischen Hammer und Amboss stehen. Von den Tierschützern werden sie als Bärentöter attackiert und teils sogar angezeigt, bei den Bauern und der lokalen Bevölkerung sind sie als Bärenschützer verschrien. Das ist alles andere als angenehm für diese Menschen, weil sie ja auch in den Dörfern wohnen. Der Tenor ihrer Aussagen lautet immer wieder: Man muss die Emotionen herausnehmen. Die Förster sind diejenigen, die wüssten, was zu tun ist, aber die großen Entscheidungen treffen nicht sie. Es bringt ja nichts zu fordern, dass alle Bären jetzt abgeschossen oder ausgesiedelt werden sollen, weil das schlicht nicht realistisch ist. Wo soll man die Bären denn hinbringen? Ein junger Förster, mit dem ich viel gedreht habe, hat mich kurz vor der Fertigstellung gebeten, ihn herauszunehmen. Sein Argument: Egal, was ich mache, es ist immer falsch. Das gilt wahrscheinlich auch für meinen Film. Vielleicht lynchen sie mich am Ende, weil man es bei so einem Thema keinem Recht machen kann. Ausser vielleicht denen, die das Ganze pragmatisch angehen wollen.

Es kursieren auch Verschwörungstheorien, wonach die Trentiner Regierung die Katastrophe quasi herausgefordert hat, um einen Vorwand zur Hand zu haben, die Bären wieder loszuwerden.

Das ist ein heikles Thema. Tatsache ist, dass die Regierung Fugatti fast alle Informationskampagnen abgebrochen hat und alles einfach laufen gelassen hat. Selbst der jährliche Bericht zum Zustand der Bärenpopulation wurde eher verschwiegen als publiziert. Es ist natürlich absurd zu behaupten, dass man nur darauf gewartet habe, dass es einen Toten gibt, um hart durchzugreifen, aber mit Sicherheit hat man die Situation bis zur Eskalation degenerieren lassen. Im Moment scheint niemand zu wissen, wie man diese emotional hochaufgeladene Situation noch managen kann. Egal, was die Politik jetzt tut, sie macht sich bei den einen oder anderen unbeliebt. Die Folge war eben lange, dass sie lieber nichts tun. Jetzt ist sie unter Zugzwang. Aus dieser Perspektive ist das Bärenthema eine Parabel für unsere aufgeheizten Zeiten, in der Politik schwierig, wenn nicht sogar unmöglich geworden ist. Die einzigen, die wirklich wissen, was zu tun wäre, sind die Förster, aber die treffen nicht die Entscheidungen.

Eine Folge davon ist, dass es vermehrt zur Selbstjustiz kommt.

Ja leider. Im letzten Jahr sind mindestens acht Bärenleichen gefunden worden, bei denen die Todesursache nicht geklärt ist. In Kärnten gab es vor Jahren ein Bärenansiedlungsprojekt einer privaten Organisation, deren Population auf 30 Tiere angestiegen ist und dann war sie auf einmal weg. Durch Wilderei kann eine Population rasch ausgelöscht werden.

Manche sagen ganz offen, dass die Wiederansiedlung ein Fehler war.

Ob die Wiederansiedlung in den 1990er Jahren wirklich eine gute Idee war, will und kann ich nicht beurteilen. Im Nachhinein ist man ja immer schlauer. Sicher ist, funktionieren kann es nur mit einem rigorosen Management.

Ein Tierschützer  sagt in Ihrem Film, dass die Wiederansiedlung ein doppeltes Verbrechen war: Eines gegen die Tiere und eines gegen die Menschen.

Klingt absurd, aber da sind sich die Tierschützer auf einmal mit den Bärengegnern einig.

Sie haben Dokumentarfilme über Callcenter, Venedig, Milch und andere Themen gedreht. Wo steht dieser Film in Ihrem Werk?

Es ist mein erster Film, in dem es um Natur und um Tiere geht. Wenn man in Italien sagt, man sei Dokumentarfilmer, ist die erste Reaktion immer: Ah, du machst Tierfilme! Mir war wichtig, einmal allen zuzuhören und alle zu Wort kommen zu lassen. Tatsächlich sind das eigentliche Thema des Films ja die sozialen und politischen Konflikte, die sich um die Bärengeschichte herum entzünden. Ich wollte die ganze Komplexität des Themas einfangen und gleichzeitig eine spannende geradlinige Geschichte erzählen.

Interview: Heinrich Schwazer

 

Zur Person

Andreas Pichler, 1967 in Bozen geboren, absolvierte die Schule für Fernsehen und Film ZeLIG. Später studierte er an der Universitá degli Studi di Bologna Film- und Kulturwissenschaften. Mit einem Magister in Philosophie schloss er seine Studien an der Freien Universität Berlin ab. Seit Ende der 1990er Jahre arbeitet er hauptberuflich im Bereich Dokumentarfilm, seit 2012 ebenso im Bereich Spielfilm. Viele seiner Filme waren auf zahlreichen internationalen Filmfestivals zu sehen und haben Preise gewonnen. 2004 gewann er mit dem Dokumentarfilm Call me Babylon über die Arbeit in Callzentren den Grimme-Preis. Im selben Jahr gründete er zusammen mit Valerio B. Moser Miramonte Film als kreative Werkstätte, die Dokumentarfilme entwickelt und international produziert. Pichler arbeitet in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien. 2012 gründet er mit Karl Baumgartner und anderen die ECHO Film

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