Maddalena geht
Die Kufsteiner Autorin Margit Weiß erzählt in ihrem Roman „Maddalena geht“ die Lebensgeschichte ihrer Urgroßmutter Maddalena Decassian, die um 1900 als Hebamme in Buchenstein/Fodom tätig war und es geschafft hat, aus der Enge ihres Lebens auszubrechen.
Von Helmuth Schönauer
Jeder Auftritt kann das Ende oder den Anfang bedeuten. – Jenseits aller Geschichtsschreibung sind es die Hebammen, die in einem Tal das Leben auf die Welt bringen oder den Tod dokumentieren.
Margit Weiß, 1963 in Kufstein geboren, erzählt am Beispiel der historisch abgesicherten Biographie der Hebamme Maddalena Decassian, wie um 1900 ladinische Täler eher einer Sagenwelt verpflichtet sind als einer aufgeklärten Notwendigkeit, die Wahrheit auch einmal in Echtzeit auszusprechen.
Zu Beginn rast gleichsam die Hebamme von einer Geburt zur nächsten, meist geht alles zumindest biologisch gut, manchmal gilt es auch, ein totes Kind zu vermelden getreu einer alten Hebammenweisheit: „Du musst aufhören, den Tod und das Leiden zu bekämpfen. Sie sind stärker als du.“ (245)
Im Tal herrscht eine gewalttätige Männerwirtschaft, Maddalena ist selbst von ihrem Vater geschlagen worden. Oft ist die Verzweiflung im Suff begraben, meist aber mit dem religiösen Sonntagsspruch unterlegt: Die Religion ist für das Tal das, was das Blut für den Körper ist.
In dieser Welt ist eine Hebamme Anlaufstelle für soziale, psychologische und medizinische Überlebensprobleme. Die permanent gebärenden Frauen können sich die Ratschläge, etwa zur Verhütung, nur kurz anhören, dann sind sie wieder der animalischen Gewalt der Männer ausgesetzt.
Wenn die Heldin an ihre Einsatzorte eilt, bedrückt sie leitmotivisch die Szenerie: Schatten, Felsen und die versteinerte Königin „Tanna“ (28) als letzte Anlaufstelle für Verzweifelte. Während sie Tag und Nacht unterwegs ist, reift in ihr die Erkenntnis, sie muss noch einmal hinaus aus dem Gelände, einmal bei ihrer Ausbildung war sie ja schon in Innsbruck und hat in der Universitätsstadt die ganze Welt entdeckt.
Im Mittelabschnitt wird diese Ausbildungszeit in Rückblenden, Gesprächen und Fallbeispielen aufgerollt. Maddalena kommt in die Hände der akademischen Medizin. Wem es gelingt, das Wort „Primar“ richtig auszusprechen, der hat schon einen großen Schritt in Richtung „medizinischer Inklusion“ gemacht. In diesem Wissenschaftszweig gilt damals die Hebammenkunst höchstens als Hilfswissenschaft, die den Oberärzten zuzuarbeiten hat. Gleichzeitig ist auch eine gewisse sexuelle Geschmeidigkeit vonnöten, um in dieser seltsam ritualisierten Fachwelt zu bestehen.
Tatsächlich kommt es während eines medizinischen Notfalls zur Vertauschung der Rollen, die junge Hebamme übernimmt den Geburtsvorgang und rettet Leben, während der akademisch bestens vorbereitete Theoretiker mit schlaffen Händen den Vorgang bestaunt. Aus dieser Rollenumkehr ergibt sich scheinbar ein Liebesverhältnis, worin der Mann wieder Mann sein kann, während ihm die Frau zuarbeitet.
Im dritten Teil, einer Art Showdown für ein verzwicktes Leben, macht sich Maddalena noch einmal auf den Weg hinaus aus dem Tal, um ein paar Sachen zu klären. Ihre Beziehung zum Arzt ist wie in jedem Kitschroman nicht ohne Folgen geblieben, sie hat damals eine Tochter auf die Welt gebracht, die der Arzt in seinen Familienverband eingefügt hat. Die Heldin selbst ist wieder zurück in die Dolomiten, wo sie sich bei jeder Geburt selbst erlebt als Wesen, das sich nicht der Wahrheit zu stellen vermag. Das „Gehen“ wird zum Hauptzustand, man könnte es auch mit „Getrieben“ übersetzen. Erst als aus dem Gehen ein Weggehen wird, klart es in der Seele auf und es bleibt Platz für die Aufklärung.
Der Roman „Maddalena geht“ ist gespeist von Aufzeichnungen aus dem Arbeitsleben der Zeit um 1900. Die Autorin Margit Weiß bedankt sich im Nachspann ausdrücklich bei ihrem Großvater, einem gebürtigen Ladiner, der sie früh in die Sagenwelt, Sprache und Geschichte der Ladiner eingeweiht hat. Einen intimen Zugang zur verschütteten Seele von Frauen in einer männlich dominierten Welt verschafft der Autorin auch ihre Tätigkeit als Psychotherapeutin in Kufstein.
Literarisch gesehen „zischt“ das Schicksal der Hebamme in das Herz der Lesenden. Die Heldin ist als Therapeutin unterwegs, wohl wissend, dass sie selbst ihre Probleme nicht lösen kann. Die erzählende Literatur mit dem Stoff um 1900 ist meist Reimmichl-haft religiös gestaltet, sie erfährt endlich frische Erzählluft, indem Frauen erzählen, was wirklich los war in den entlegenen Tälern der göttlichen Monarchie.
Der Mythos vom ladinischen Matriarchat, wie es oft fälschlich besungen wird, erstarrt zur steinernen Königin Tanna, vor der man sich höchstens ausschluchzen kann, wenn einem die Gegenwart zu viel wird.
„Maddalena geht“ reiht sich würdig ein in die Kette großartiger ladinischer Romane, als deren Höhepunkte vielleicht Anita Pichlers „Frauen von Fanis“ und „Totgeschwiegene Leben“ von Rut Bernardi angesehen werden können.
Margit Weiß: Maddalena geht. Roman. Bozen: Edition Raetia 2024. 251 Seiten.
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