„Arm und Reich“
Am 29. August beginnen im Schallerhof die 39. Literaturtage Lana. Unter dem Titel „Arm und Reich“ greifen sie die soziale Frage, das Thema Gerechtigkeit und Gleichheit auf. Dazu hält Marlene Streeruwitz die Eröffnungsrede, eine Lesung von Ulrich Matthes, der zum 100. Todestag von Franz Kafka aus dessen Texten liest, beschließt das Festival.
Gerechtigkeit? Gibt es nicht, kann es gar nicht geben. Nicht einmal Gott könne Gerechtigkeit herstellen, dazu müsste er seine Schöpfung widerrufen, schrieb Dostojewski, der radikalste Denker der Gerechtigkeit, im Roman „Die Brüder Karamasow“. Damit wischt er die zentrale christliche Tröstung, wonach es Gerechtigkeit wenigstens im Himmel gebe, mit einem Mal vom Tisch.
Wie steht es darum nun auf der Erde, wo es im besten Fall die Schwundstufe der göttlichen Gerechtigkeit, das Recht, gibt? Lässt sich hier ein Ort oder ein System finden, wo es gerecht zugeht, oder gilt auch hier und noch immer: Gerechtigkeit sei etwas, das vielleicht komme, etwas, auf das sich nur hoffen lässt? Ist Gerechtigkeit also nicht in jedem Fall eine Idee, der sich Gesetz, Recht und Macht so oder anders anzunähern versuchen? Und ist sie dann nicht allzu oft auch Teil dieser oder jener Utopie, von der man weiß, wie leicht sie in die Irre laufen kann? Kann Recht Gerechtigkeit schaffen? Das Recht in Form von Gesetzen regelt die Mittagszeit, garantiert aber nicht das Essen.
Unter dem Titel „Arm und Reich“ greifen die Literaturtage Lana 2024 die soziale Frage auf, die zunehmend zu gesellschaftlichen Spannungen führt. Seit einem Viertaljahrhundert nehmen extremer Reichtum und extreme Armut gleichzeitig zu und schaffen eine Ungleichheit, die unsere Gesellschaft zu zerstören droht. Sie greift das Gefühl von Herkunft und Hinkunft an. Sie erschüttert es, wenn es massiven Veränderungen ausgesetzt ist, die auch die Arbeitswelt beherrschen.
Die Frage nach dem Klassenbegriff ist wieder eminent da und hat auch Einzug in die Literatur gehalten. Wenn diese per se Gerechtigkeit zum Thema hat und menschliche wie gesellschaftliche Verhältnisse vor Augen führt, gibt es die Frage, was daraus folgt.
In der Eröffnungsrede spitzt Marlene Streeruwitz sie erwartungsgemäß und erwartungsvoll zu: „Was bedeutet es, wenn ein Problem zur Frage gemacht wird und damit nicht mehr Lösungen gesucht, sondern Antworten gegeben werden?“, fragt die österreichische Schriftstellerin.
Magdalena Schrefel geht in ihrem preisgekrönten Erzählband den absurden Herausforderungen des Spätkapitalismus nach, die Arbeiterinnen und Arbeiter zu Pappfiguren machen.
Der Soziologe Klaus Dörre versucht, das Phänomen der demobilisierten Klassengesellschaft zu erklären und will ihr trotz erschütternder Bilanz die Chance für einen demokratischen Aufbruch zubilligen.
Ingo Schulze, renommierter Schriftsteller und derzeitiger Präsident der Akademie für Sprache und Dichtung, beobachtet seit Jahrzehnten die Spannungen zwischen dem Osten und Westen Deutschlands nach dem Fall der Mauer und erkennt darin auch die Ungleichheiten, die politische Folgen haben.
Ob Unterschiede und zunehmende Entfremdung zwischen dem ehemaligen Osten und Westen Europas, ob die Unterschiede in der Positionierung von Individuum und Kollektiv, ihre Wurzeln auch in der unterschiedlichen psychohistorischen Prägung haben, fragt sich in einer spannenden Studie der Historiker Andreas Peters. Ernest Wichner stellt ihn vor.
Die tschechische Autorin Radka Denemarková schaut nach China, einem Sehnsuchtsort für Europäer, die ihr Leben in neue Bahnen lenken wollen. Doch den Möglichkeiten zur eigenen Entfaltung sind in dem kommunistischen Land starre Grenzen gesetzt.
Der Abschluss der Literaturtage Lana 2024 ist Franz Kafka gewidmet, dessen zum 100. Todestag in diesem Jahr weltweit gedacht wird. In Lana feiert ihn der Verein der Bücherwürmer mit einer Lesung mit dem großen Schauspieler und Charakterdarsteller Ulrich Matthes, dessen Lesungen Legende geworden sind.
Programm
Donnerstag, 29. August, 20.00 Uhr: Eröffnung mit Bürgermeister Dr. Helmut Taber, Elmar Locher, Präsident des Vereins der Bücherwürmer, und Christine Vescoli, Kuratorin der Literaturtage Lana 2024. Marlene Streeruwitz: Eröffnungsrede: „Fragen ist immer erlaubt.“
Freitag, 30. August 17.00 Uhr: Magdalena Schrefel: Brauchbare Menschen (Suhrkamp Verlag 2022), Lesung und Gespräch, Moderation: Ernest Wichner
18.00: Klaus Dörre: Demobilisierte Klassengesellschaft? Moderation: Hans Heiss
20.00: Ingo Schulze: Zu Gast im Westen. Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet (Wallstein 2024); Lesung und Gespräch: Moderation: Stefano Zangrando
Samstag, 31. August 10.30: Kurzfilm: 89 mm od Europy (POL, 1993, Regie: Marcel Łoziński, 12 Min.)
11.00: Andreas Petersen: Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand. (Klett-Cotta, 2024), Buchvorstellung mit Ernest Wichner
12.00: Radka Denemarkova: Stunden aus Blei (Hoffmann & Campe Verlag 2022), Lesung und Gespräch, Moderation: Christine Vescoli
20.00: Ulrich Matthes liest Texte von Franz Kafka
Alle Veranstaltungen finden im Schallerhof, Raffeingasse 2, statt. Den Büchertisch gestaltet die Alte Mühle, Meran.
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