Ein Mahler der ultimativen Deutlichkeit
Ein denkwürdiges Konzert, das auch das historische Gedächtnis stimulierte: Das Europäische Jugendorchesters unter Iván Fischer führt beim Festival Bozen Variationen über ein Kinderlied für Orchester und Klavier von Ernst von Dohnányi mit der Solistin Isata Kanneh-Mason und Gustav Mahlers Symphonie Nr. 1 auf.
Von Hubert Stuppner
„Man dachte dies und dachte das, man fühlte dies und fühlte das und sehnte sich den Tönen nach“, dies frei nach Mörike der Eindruck zum Konzert des Europäischen Jugendorchesters unter Iván Fischer am vergangenen Samstag im Bozner Stadttheater: ein denkwürdiges Konzert, da es über den Unterhaltungswert hinaus auch das historische Gedächtnis stimulierte und auf die intensivste Art und Weise die späte Romantik mit der unsteten Gegenwart in Beziehung setzte.
Fischer ist ein Name, der für Ungarns einmalige Musiktradition steht. Man denkt an die jüdische Liszt-Preisträgerin Annie Fischer, Schülerin von Ernö von Dohnanyi, die sich wie ein Wunder vor Eichmann nach Schweden retten konnte. Ob in diesem Konzert mit der Wahl eines Werkes von Dohnanyi, der in Budapest wirkte, auch die Geschichte der bedeutenden Musikerdynastie erzählt werden sollte, die jener des heutigen Fischer- Clans (Vater Sandor Fischer & die Brüder Ivan und Adam Fischer) nicht unähnlich ist, mag Spekulation sein. Ernö, später verdeutscht zu Ernst von Dohnanyi, ist der Großvater des langjährigen Ersten Bürgermeisters von Hamburg Klaus von Dohnanyi und des Dirigenten Christoph von Dohnanyi. Letzterer wurde noch in Kindesjahren vom Großvater Ernö unterwiesen. Die genannten Brüder Dohnanyi sind die Söhne von Hans von Dohnanyi, des Sohnes aus erster Ehe des Komponisten Ernö von Dohnanyi. Hans war Jurist und einer der Widerständler gegen Hitler. Seine Aufzeichnungen über den Röhn-Putsch und die Mittäterschaft bei der Legung einer Bombe in Hitlers Flugzeug gerieten ihm 1944 zum Verhängnis. Er wurde gehängt. Aber schon Ernö von Dohnanyi hatte Probleme mit den Nazis. Als diese von ihm, dem Direktor der Budapester Musikakademie, 1941 verlangten, dass er den Juden Weiner entlasse, lehnte er das Ansinnen ab und wurde des Amtes enthoben.
Ernö von Dohnanyi war pianistisches Wunderkind und Mitschüler von Bela Bartok an der Budapester Musikakademie. Während er sich mit dem Liszt-Schüler Eugen d’Albert als Solist die letzten Weihen holte, reüssierte er bereits als Komponist und wurde von Brahms nach der Veröffentlichung eines Klavier-Quintetts über alles gelobt. Die 1914 komponierten „Variationen über ein Kinderlied“ für Klavier und Orchester (in Bozen als Solistin die grazile Isata Kanneh-Mason) sind im Grunde ein Klavierkonzert in drei Sätze, jedoch ohne Satz-Trennung und durchkomponiert. Was jedoch an diesem Werk so besticht, ist seine offensichtliche Kontextualität mit dem Jahr 1914, dem Jahr der Implosion des alten Europas.
Zur großen Wirkung des Werks trägt vor allem der Gegensatz des naiven Kinderliedes „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ und der dämonischen Verarbeitung in Klavier und Orchester bei: alles in C, aber unheimlich wie „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus. Über dem unschuldigen Kinderspiel in C-Dur, das mit Glockenläuten und geigenden Brahms-Sexten und mit allerlei virtuosen Purzelbäumen sich überschlägt, ja sich sogar an einem echten Wienerwalzer austobt, brauen sich im Verlauf des ersten Satzes düstere Gewitterwolken zusammen. Spätestens bei der 9. Variation ist Schluss mit Lustig. Da steigen die Fagotte chromatisch tief abwärts und eröffnen eine makabre Burleske. Die Verse Georg Trakls, der bereits 1914 am Krieg zerbrach, wären die passende Beschreibung: „Da macht ein Hauch von Verfall mich erzittern …Indes wie blasser Kinderreigen im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.“ Wie sehr wir es hier mit symptomatischer Musik zu tun hatten, zeigten auch das breit ausladende Adagio voller Wehmut und Weinen und das abschließende doppelbödige Fugato: ein berührender Mahler-ähnlicher Abgesang auf die „Welt von Gestern“ in der Tonart des „Habsburgischen Mythos“.
Zu diesem Werk passte als Abschluss nur eine einzige Symphonie: Mahlers Erste, die 1889 in Budapest in ihrer Urgestalt zur Aufführung kam. Iván Fischer hat diese Symphonie bereits einmal in Bozen- vor fast 30 Jahren – damals in der Sporthalle – dirigiert. Ich erinnere mich. Auch Abbado war im Publikum, und ich war von der Sinnlichkeit und Deutlichkeit der Phrasierung so hingerissen, dass ich mich spontan fragte: Wer will es denn diesem romantischen „Kapellmeister Kreisler“ gleichtun?
Am vergangenen Samstag im Stadttheater derselbe intensive Eindruck. Fischer ist der Gleiche geblieben. Vielleicht, wenn überhaupt möglich, noch mehr auf den breiten Genuss der schönen Stellen aus. Diese Erstlingssymphonie ist ja bei langem Verharren auf besonderen Motiven bekanntlich vom Faust‘schen „Verweile doch du bist so schön“ angehaucht. Als Mahler sie nach verschiedenen Revisionen fertig hatte, stellte er zufrieden fest: „Es ist so übermächtig geworden, wie es aus mir wie ein Bergstrom herausfuhr. Wie mit einem Schlag sind alle Schleusen mir geöffnet.“
Fischer, nun über siebzig, tut es Mahler gleich: Er nimmt sich an den Stellen, wo das Espressivo auftaut, unendlich viel Zeit und erzeugt soviel potentielle Energie, bis sie im Ruhezustand dynamisch zur Explosion kommt. Diese Extremisierung von Langsam und Weich und Rasch und Heftig sind das Markenzeichen seiner Regie. Deshalb ist sein Klang inwendig so voller Figur. Im ersten Satz gestaltet er den Naturlaut des Waldes bei Sonnenaufgang als „Gesänge der Frühe“, im zweiten Satz lässt er die Bauern beim Tanz mit den Beinen stampfen, im dritten Satz verwandelt er den Trauermarsch in ein Klezmer Begräbnis und im letzten versetzt er einen Sterbenden nach heftigem Schreien und Schluchzen in Trance, in dem ihm vor Gottes Tron selig die Engel geigen. Es war ein Jubeln und Jauchzen und Schleifen und Schluchzen. Ein Mahler der ultimativen Deutlichkeit durch Phrasieren und Prosodie.
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