Ein Dom im Dom
Klassische Musik in ecclesiis: Die Pilsner Philharmoniker unter der Leitung von Rémy Ballot führten im Brixner Dom die Symphonie Nr. 5 von Anton Bruckner auf.
Von Hubert Stuppner
Klassische Musik in ecclesiis: Die Aufführung von Instrumentalwerken im Sakralraum ist bis heute ein nicht geklärtes Dilemma. Wenn jedoch die Ansicht siegt, dass für den lieben Gott das Beste gerade genug ist, dann dürfte das Kriterium der höchsten Vergeistigung im musikalischen Kunstwerk dem Cäcilianischen Anspruch vollauf genügen. Einen Anspruch, den „Musik und Kirche“ in seinen erlesenen, auf Ökumene basierenden Konzerten, gewiss respektiert. Programme, die bereits beim Betreten des Domes Ehrfurcht gebieten, die Zerstreuung bannen und jedwede Unterhaltung verbieten.
Wenn es eine Symphonie gibt, die vor allen anderen in die Kirche gehört, dann ist es Bruckners „Fünfte“: Sie ist in ihrer hymnischen Gestalt selbst ein Dom, der von einem tief gläubigen neuzeitlichen Franziskus nach der Lehre der großen orthodoxen Polyphonisten und Kontrapunktiker Palestrina und Bach errichtet wurde. Mahler hat Bruckners Genie etwas despektierlich mit „halb Gott und halb Trottel“ bezeichnet und damit auf dessen kindlich- katholische Naivität hingewiesen.
Bruckner war sich nämlich selbst lange Zeit seiner Bedeutung nicht bewusst: Am liebsten wäre er anonym geblieben. Wie die mittelalterlichen Hütten-Baumeister der Dome, denen es allein um wohl proportionierte Strukturen, Pfeiler, Gewölbe, Rippengewölbe und Spitzbögen ging, um große Kirchenschiffe, um Strebebögen und Portale, Ziergiebel und Wasserspeier, Fensternischen und das helle Licht durch sie hindurch. Bei Bruckners „Fünfter“ staunt man gerade über das gewaltige Volumen, über die energetischen Klangmassen im Unissono, die in Bewegung gesetzt, als Klangsäulen hoch aufragen und die Seelen der Zuhörer – und deren Geist – nach oben tragen und zu einem kollektiven Sursum corda inspirieren. Ein Meisterwerk, das ungeachtet aller irdischen und akademischen Behinderungen wie vom Himmel fiel. Bruckner geriet 1874 nach der Entlassung als Orgellehrer in einer Wiener Mädchenschule in arge finanzielle Bedrängnis. So bewarb er sich um eine Theoriestelle an der Universität, blitzte jedoch ab, da im Berufungsausschuss ausgerechnet sein Erzfeind, der Kritiker-Papst Hanslick saß, der Bruckner gegenüber nie mit Grobheiten gespart hatte und ihn mit Anspielung auf dessen Leibesgericht von Kraut und G’selchtem mit der Bemerkung verunglimpfte: „Der Mensch ist, was er isst“.
Was jedoch beim solchermaßen Beleidigten definitiv die Ader platzen ließ, war die Begründung, die Hanslick für die universitäre Ablehnung vorgab: „Man sieht, dass Herr Bruckner über das Fach, das er lehren will, sich selbst nicht ganz im Klaren ist“. Das muss wohl zuviel gewesen sein. Der Verschmähte sagte sich: Und jetzt erst recht und schuf eine Symphonie, die er später im Verweis auf die Doppelfuge im Finale als sein „kontrapunktisches Meisterwerk“ bezeichnete.
Der Leidensweg Bruckners mit seiner – heute als die „Katholische“, „Phantastische“ oder „Glaubenssymphonie“ bezeichneten – „Fünften“ war mit der Fertigstellung jedoch noch nicht zu Ende. Als sie 1894 Franz Schalk in Graz – nach schrecklicher Verunstaltung und zahlreichen Strichen – aus der Taufe hob, war der Meister schon zu krank, um der Aufführung beizuwohnen. Es sollten dann noch etwa 40 Jahre vergehen, bis sie 1935 erstmals in ihrer Originalgestalt erklang. Aber selbst ein so Bedeutender wie Furtwängler, der sie 1942 an der Spitze der Berliner in nur 67 Minuten herunter spielte, als wäre sie eine Beethovensymphonie, wurde dem enigmatischen Werk nicht gerecht. Ihm sich zu nähern, versuchten es u.a. Eugen Jochum und Herbert von Karajan, die sie auf 77 bis 80 Minuten ausdehnten. Aber erst mit Celibidache ist ihr 1985 in München mit einer 90 Minuten Dauer Gerechtigkeit geschehen. Nun, nach Celibidaches von Phänomenologie geleiteter Läuterung ist der von Bruckner in Noten gesetzte kompositorische Prozess abgeschlossen. Die Symphonie ist nun ganz bei sich selbst. Seine Erben Christian Thielemann und Rémy Ballot wissen nun, dass die Symphonie, um deren gewaltigen Höhenunterschiede und deren gewaltige Dynamik durchzuhalten, nicht unter 90 Minuten dauern kann.
Wie am letzten Freitag im Dom zu Brixen. An der Spitze des wunderbaren Pilsener Symphonie-Orchesters flutete Rémy Ballot, der als letzter Schüler von Celibidache auch dessen ausladende Schlagtechnik beherrscht, den voluminösem Brixner Dom mit einer gewaltigen symphonischen Klangmasse: eine teils flüssige, teils in den Obertönen zerstäubte, die bis zur Goldenen Kanzel aufstieg, von dort bis zu den Simsen weiter schäumte und das Gewölbe mit einem nie enden wollenden Jubelgesang von Geigen und Trompeten durchdrang. Diese zwischen innerer Ruhe und aufbrausendem Tutti wogende Klangwolke war die Summe einer äußerst intensiven Phrasierung, die immer wieder innezuhalten verstand, den Nachhall verklingen ließ und die dynamischen Ballungen wie ein Gewitter entlud.
Damit erfuhr diese gründerzeitliche Symphonie eine selten sinnliche Konkretion, die an bildliche barocke Assoziationen rührte: im ersten Satz der fromme Kirchgang des Volkes, die Prozession der Geistlichkeit, das Introitus der Musikanten und Chöre, der Auftakt zur Feier. Dann im Adagio, mit den Pizzicati im Unissono, das andächtige Schreiten der Mönche und dann ein inbrünstiger Gesang, der an Herz und Nieren geht. Im Scherzo die Töne, die von außen hereinspielen, und der Geistlichkeit bedeuten, dass das Volk am Kirchtag auch Irdisches im Sinn hat: ein Tänzchen am Domplatz mit Musikanten und Narren und allerlei Schabernack. Und zum Schluss die Krönung mit dem charakteristischen Brucknerschen Finale, gleichsam die Kuppel in all ihrer Breite und Höhe. Eine Doppelfuge, die am Beginn Ton für Ton vorbuchstabiert wird, dann die chorische Sammlung aller Stimmen, die über immer höhere harmonische Plateaus triumphal zum Abschluss führen. Ein musikalisches Hochamt von großer expressiver und mystischer Wirkung!
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