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„Mama, du musst dir Hilfe holen“

Fotos: Sabes

Die 58-jährige Lehrerin Claudia litt unter Ess- und Schlafstörungen. In Bad Bachgart fand sie Ruhe und Struktur – und zum eigenen Ich.

Claudia, eine lebenslustige und humorvolle 58-jährige Lehrerin, unterrichtet mit viel Engagement Englisch an einer Südtiroler Oberschule. Vor einigen Jahren erfüllte sie sich ihren Herzenswunsch: sie begann ein Doktoratsstudium in Linguistik an der Uni Innsbruck. Für ihr Forschungsthema „Polyglottismus und Mehrsprachigkeit“ brannte sie förmlich.

In ihrer Begeisterung merkte Claudia zu spät, dass sie sich überforderte, wenn sie, neben dem Unterrichten, noch bis tief in die Nacht hinein an ihrer Dissertation arbeitete – bis zu 15 Stunden täglich. „Ich litt unter Schlafstörungen und brauchte deshalb nur wenig Schlaf. Und, weil ich so intensiv an meiner Forschungsarbeit schrieb, hatte ich gar keine Bewegung mehr. In all dem Stress begann ich aus Frust völlig unkontrolliert zu essen, vor allem nachts, um das alles zu schaffen. Auf diese Art habe ich innerhalb kurzer Zeit gut 20 Kilo zugenommen“, erzählt Claudia.

Die Oberschullehrerin, die schon früher zur Ernährungsberatung ins Krankenhaus Meran ging, wenn sie wieder einmal mit Übergewicht zu kämpfen hatte, erzählt: „Ich wusste immer genau, welches Essen ich auswählen hätte sollen, aber ich habe mich immer willentlich für das, was mir nicht guttut, entschieden. Außerdem habe ich mir nicht einmal einen kurzen Spaziergang gegönnt.“

Als Claudia bei einer Körpergröße von 1,57 Zentimeter ein Gewicht von 88 Kilo erlangt hatte, fragte ihre Tochter, ob sie etwa die 100-Kilo-Marke erreichen wolle. „Ich verdanke es meinen beiden Töchtern, dass ich mir Hilfe geholt habe. Sie haben mich darauf hingewiesen, dass es mit mir so nicht mehr weitergehen konnte.“

Diagnose Binge-Eating

Im Dienst für Diät und Ernährung des Krankenhauses Meran, der von Maria Elena Azzaro geleitet wird, wurde festgestellt, dass sich bei Claudia aus dem Problem mit dem Übergewicht durch die Doppelbelastung von Studium und Beruf eine Essstörung, ein sogenanntes Binge-Eating-Syndrom, ausgebildet hatte. Die Betroffenen leiden unter unkontrollierten Essattacken, ergreifen danach aber keine Maßnahmen, wie das Erbrechen der Nahrung, so wie es Menschen, die an Bulimie leiden, tun. Die Essattacken sind meist von negativen Gefühlen begleitet und werden aus Scham oft geheim gehalten.

Die Psychotherapeutin des Krankenhauses Meran Angelika Fauster, die Claudia betreute, empfahl ihr einen mehrwöchigen Aufenthalt im Therapiezentrum Bad Bachgart.

Der Aufenthalt in Bad Bachgart

Claudia, die gerne reist, bezeichnet Bad Bachgart als ihre interessanteste Reise. „Für mich war es eine Reise in das eigene Ich, es war die Erholung, die ich schon lange gesucht hatte. Ich hatte nicht direkt ein Burnout, ich war immer funktionsfähig, aber was meine wissenschaftliche Arbeit betraf, fühlte ich mich völlig ausgebrannt. Von der anfänglichen Begeisterung für meine Forschungen war nur mehr ein kleiner Funke übrig.“

Für Claudia dauerte der Therapieaufenthalt zehn Wochen. „Wir konnten zwar angeben, was uns nicht schmeckte, aber alles in allem mussten wir uns an die Vorgaben der Ernährungstherapeutinnen halten“, erzählt sie. In ihrer Gruppe waren PatientInnen mit sehr unterschiedlichen Essstörungen. Diejenigen mit Magersucht mussten darauf achten, innerhalb eines vorgegebenen Zeitintervalls alles aufzuessen, sie selbst musste hingegen langsam essen und das Essen bewusst genießen. „Ich musste wieder lernen, wie sich Hunger und Sättigungsgefühl anfühlen.“

Neben Einzel- und Gruppentherapien besuchte Claudia auch andere Therapieformen, wie Kunst-, Musik-, Schreib-, Ergo- oder Bewegungstherapie und nicht zuletzt auch Yoga.

In Bad Bachgart war jeder Tag stark strukturiert. „Diese Regelmäßigkeit war für mich äußerst heilsam, denn meine Tage waren in den letzten Jahren ohne jegliche Struktur. Das hat sich von Anfang an gleich positiv auf meinen Schlaf ausgewirkt und nach einer Woche konnte ich schon deutliche Verbesserung beim Schlafen und Essen bemerken“, erzählt Claudia.

„In Bad Bachgart übernimmt jeder Patient und jede Patientin eine Aufgabe. Ich war in der Stallgruppe für die Lamas zuständig. Beim Ausmisten im Lamastall stellte ich mir vor, dass ich gleichzeitig auch die schlechten Angewohnheiten aus meinem Leben ausmisten würde.“

Während ihres Aufenthaltes in Bad Bachgart gelang es Claudia, medizinisch begleitet, ihre Schlafmedikamente abzusetzen und durch etwas Leichteres zu ersetzen. Was die Essstörung betrifft, so schaffte sie es, ein wenig abzunehmen und ihr Gewicht zu halten. „Jeder will heute schnell und sofort abnehmen. Ich habe jedoch besonders bei der Psychotherapie mit Magdalena Pramstraller gelernt, dass das nicht so geht, Abnehmen ist ein langsamer Prozess. Das ganze Denkmuster muss neu programmiert werden, ich musste alles wieder neu erlernen, was Essen, Kochen und Einkaufen betrifft. Ich habe in Bad Bachgart zwar nur vier Kilo abgenommen, obwohl ich viele Spaziergänge machte und auch in die Turnhalle ging, aber meine Blutwerte waren perfekt.“ 

Pilotprojekt für Essstörungen

Auch nach den Wochen in Bad Bachgart ging Claudia weiterhin zur Psychotherapie und Ernährungsberatung in Meran. Im Mai startete erstmals ein fünfwöchiges Projekt des Psychologischen Dienstes, des Dienst für Diät und Ernährung und der Sportorganisation UISP. Ziel dieses multidisziplinären Projekts ist eine Änderung des gewohnten Lebensstils. Einige übergewichtigen Frauen erhalten dabei die Gelegenheit, in einer kleinen Gruppe abwechselnd psychologische Beratung Psychoedukation und Ernährungsberatung zu erhalten. Zusätzlich werden sie zwei Mal wöchentlich von eigenen Bewegungs-Coaches mit Aquagymnastik sowie Fitness- und Konditionstraining beim Abnehmen unterstützt.

Auch dieses Projekt war für Claudia hilfreich. „Ich habe für die Sommerpause eine WhatsApp-Gruppe gebildet. Wir treffen uns nun aus eigener Initiative jede Woche zum Spazierengehen und Schwimmen und spornen uns gegenseitig an, uns zu bewegen.“

Claudia hat wichtige Strategien mit auf den Weg bekommen. „Es gelingt mir jetzt, zu essen und zu genießen, ohne dass ich wieder zugenommen habe, das ist ein großer Erfolg. Nur wenn ich wieder vermehrt Stress habe, kommen die alten Gewohnheiten wieder zu Tage, wenn auch nicht mehr so stark; dann bemühe ich mich um Schadensbegrenzung. Und wenn ich keinen Stress habe, schlafe ich endlich wieder gut.“

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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