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Meine Muttersprache ist Puschtrarisch

Mary de Rachewiltz: Am liebsten täte ich Tag und Nacht schlafen, wenn ich ehrlich bin. Ich versuche halt wenigstens ehrlich zu sein. Wenn auch nicht immer wach, dann immer ehrlich. (Foto: Mark Flagler)

Mary de Rachewiltz, Tochter des US-amerikanischen Dichters Ezra Pound, hat  ihren 99. Geburtstag gefeiert. Ein Geburtstagsgespräch mit der Dichterin und Übersetzerin auf der Brunnenburg.

Tageszeitung: Liebe Mary De Rachewiltz, alles Gute zum Geburtstag!

Mary de Rachewiltz: Danke! Wie alt bin ich? 99? Ja, 99.

Wie geht es Ihnen?

Mir geht’s gut. Ich habe eine schöne Familie und einen schönen Ort, ich brauche mich nur hierher zu setzen und mehr brauche ich nicht mehr. Ich habe viele Fragen: Was ist denn das? Und was bewegt sich dort? Und warum ist heute die Fahne von Schloss Tirol nicht in der Luft usw. Ich habe alle möglichen Fragen und es ist gut, dass man Fragen hat.

Hält Sie das so hell und wach?

Na ja, wach, weiß ich nicht, aber am liebsten täte ich Tag und Nacht schlafen, wenn ich ehrlich bin. Ich versuche halt wenigstens ehrlich zu sein. Wenn auch nicht immer wach, dann immer ehrlich.

 Und am ehrlichsten ist man im Schlaf?  

 Ja, wahrscheinlich. Aber ich werde immer schwerhöriger. Ich muss den Leuten in die Augen sehen. Wenn ich jemanden vor mir habe, kann ich ihn hören.

 Lesen Sie noch?

 Ja, ich lese noch alles Mögliche, was mir unter die Augen kommt. Manchmal Sachen, die mich nicht sehr erfreuen. Aber man muss sie lesen.

 Und dann gibt es schöne Sachen, die man lesen kann, zum Beispiel die neu erschienene Gesamtausgabe Ihrer italienischen Gedichte, gesammelt von Massimo Bacigalupo.

 Ja, Massimo. Habe ich Ihnen das schon gesagt: Die Bacigalupo Kinder wurden von meiner Mutter immer als Vorbildkinder dargestellt. Und das hat mich immer so geärgert. Ich habe gesagt: Ja, das ist schon recht. Aber die haben ein Fräulein. Die haben eine Wohnung, wo es ein Bad mit Dusche gibt. Sie haben halt etwas, was die normalen Familien nicht haben. Ich habe einen pozzo gehabt, wo man eine Kandel hinunterwerfen und dann wieder heraufziehen musste.

 Wo war das?

 In Sant´Ambrogio. Da war kein laufendes Wasser in Sant´Ambrogio. Wir mussten das Wasser vom pozzo heraufziehen und dann in der Küche auf dem Kohleherd wärmen.

 Aber die Kindheit haben Sie in Gais verbracht.

 Ja, das war mein Glück. Dass mich die Sama Mamme gut erzogen hat.

 Wer war das, die Sama Mamme?

 Die Sama Mamme war die Amme. Meine Mutter war in Brixen und die Sama Mamme war auch in Brixen, aber das Kind von der Sama Mamma ist leider gestorben. Sie hatte viel Milch und meine Mutter hatte entweder keine Milch oder sie wollte keine Amme werden. So war die Sama Mamme eigentlich mein Leben.

 Und die hat Sie nach Gais mitgenommen?

 Die hat mich mitgenommen nach Gais. Da war ein ganz normales, eigentlich ärmliches Bauernhaus, wo kein fließendes Wasser usw. war. Aber mein Großvater hat gesagt, das wäre eigentlich ein guter Platz, hier aufzuwachsen.

 Welcher Großvater?

 Der Großvater väterlicherseits, Homer.

 Wie kam Ihre Mutter nach Brixen?

 Weil der Arzt in Sirmione wahrscheinlich voraus gesagt hatte, sie würde eine schwierige Geburt haben. Er hat sie dann nach Brixen geschickt. Ich weiß nicht, was sie dann zum Schluss getan haben, ob sie mich mit Kaiserschnitt heraus gezogen haben oder sonst irgendwie. Ich bin halt da.

 Wie war dann Ihr Familienleben? Das war ja etwas unüblich, für damals erst recht.

 Ich bin ja nicht mit meinen Eltern aufgewachsen. Die habe ich in Venedig besucht. Und die arme Sama Mamme musste mit mir von Gais nach Venedig fahren, und das war schon eine Plage für die arme Mamme und für den Tatte, der dann ein paar Tage ohne Frau war. Aber sie hat es gemacht. Sie haben halt das Geld gebraucht. Der Sama Tatte war ein Kriegsinvalide, er hatte eine verkrümmte Hand. Deswegen haben sie sich mit meinem Geld und mit seiner Pension ganz gut durchgeschlagen. Ich habe den Tatte sooo gern gehabt. Ich bin immer mit ihm auf die Felder gegangen und ich kann mich gut erinnern an den Genuss: Er hat Mist geführt und beim Fahren habe musste ich hinten auf dem Schrepfer sitzen, aber dann auf dem Rückweg, wenn der Mist entfernt war und die Penne leer, durfte ich mit dem Tatte in der leeren Penne sitzen und das war ein großer Genuss. Das war so wie eine Wiege.

 Können Sie noch den Puschtra Dialekt?

 Jo jo, wenn i will, wenn i wellat, tat is schu nö kenn.

Und wie haben Sie dann die Zeit mit Ihren Eltern verbracht?

Das war immer ein Katzenjammer eigentlich.

 Waren Sie den ganzen Sommer in Venedig?

 Nicht den ganzen Sommer, halt ein paar Wochen.

 Und wie war das?

 Schlimm. Das hat niemandem gefallen, mir nicht und der Sama Mamme schon gar nicht, aber es war halt nützlich. Meine Mutter hat monatlich bezahlt oder mein Vater und das Geld hat man beim Sama gut gebraucht. Man hat ein neues Dach gemacht. Es kamen die Zimmerleute aus Sand in Taufers.

 Haben Sie eine Erinnerung an Ihren Vater und Ihre Mutter in dieser Zeit?

 Na, die waren halt die Herrschaft, der Herr und die Frau. Die Sama Mamme hat gesagt: Die Frau isch kemm. Die Frau hot olla meglichen Sekten.

Und wie haben Sie mit Ihren Eltern in Venedig gesprochen?

 Ja, das war ein Problem, wir haben nicht dieselbe Sprache gesprochen. Ich habe dann halt ein bisschen Italienisch gelernt und meine Mutter hat ein bisschen Deutsch gelernt. Als ich sie gesehen habe, habe ich gesagt: A sella Fock! Sie hot koana Strimpfe on. Und dann hat sie gesagt: Nein! Denn sie hatte ja Strümpfe an, aber die Seidenstrümpfe, die die Leute damals natürlich nicht gehabt, haben, sondern die wollenen, gestrickten. Deshalb habe ich gesagt: A sella Fock, sie hot koane Strimpfe o. Dann hat meine Mamma meine Hand genommen und wollte, dass ich die Seidenstrümpfe anfasse.

 Und wann haben Sie Italienisch und Englisch gelernt?

 Sie haben mich dann nach Florenz nel Regio Istituto delle nobili Signore Montalve alla Quiete. Das habe ich bis zum 4. Gymnasium gemacht. Weil in Gais gab es die Schule ja nur bis zur 5. Klasse. Früher gab es auf den Dörfern nur die Volksschule. Und dann haben sie mich von Gais nach Florenz gerbracht und da habe ich die ersten drei Monate geweint vor Heimweh und dann, zum Schluss lebe ich halt noch.

 Und Englisch haben Sie auch an der Schule gelernt?

 Ja, von der Madre Francesca Chiara. Sie war eine Amerikanerin, die immer eingeschlafen ist, während sie mir zuhörte. Sie war so eine Mystikerin. Sie ist als junges Mädchen nach Assisi gekommen und ist in dieser Mystik halt ganz verschwommen.

 Was ist Ihre Muttersprache?

 Meine Muttersprache ist Puschtrarisch.

 Wie denken Sie? Wie sprechen Sie zu sich selbst?

 Weiß ich nicht. Ich sehe halt, dass dort 3 gelbe Rosen wachsen, Yellow Roses of Texas. Ich sehe, was ich sehe.

 Wann haben Sie angefangen zu schreiben und warum?

Man musste damals in der Schule den Diario machen, schon in der 2. Klasse. Ich weiß, dass ich ab und zu ein paar Hefte finde, wo ich schrieb: Il Babbo é andato a Brunico. Aber il Babbo war nicht mein Vater, sondern der Sama Tatte.

 Und wie haben Sie Ihren Vater, den Ezra Pound, genannt?

 What did I call him? I don`t know why I call him. Babbo? Babbo, probably, yes!

 Und Ihre Mutter?

 La mamma.

 Mit ihnen haben Sie Englisch gesprochen?

 Sie wollten immer, dass ich Englisch spreche. Aber ich konnte ja noch nicht Englisch sprechen und es war immer dieser Kampf.

 Welche frühe Erinnerung haben Sie an Ihren Babbo? Was war er für ein Mann?

 Mein Babbo war ein herrlicher Mann. Er hat immer Schokolade gehabt. Er hat selber gerne genascht. Mein Vater war schon ein großzügiger Mann. Sehr großzügig.

 Kam er auch nach Gais?

 Ja, und in Gais haben sie ihn immer gerne gesehen, während sie meine Mamma nicht gerne gesehen haben. Meine Mamma war sektisch und murre.

 Haben Sie damals gewusst, dass er so ein berühmter Dichter war, der Weltliteratur schrieb?

 Ich weiß es nicht. Sie haben ihn halt alle gerne gehabt.

 War es schön mit ihm? Was haben Sie mit ihm getan?

 Er hat mich mit genommen Tennis zu spielen in Venedig. Wir sind ins Lido. Dort haben wir Tennis gespielt. Und da hat er einen Schuh ausgezogen und hat ihn in eine Ecke gestellt und hat gesagt: Hit it! Ich musste so lange schlagen, bis ich diesen Schuh endlich getroffen habe. Das waren kurze Aufenthalte in Venedig.

 Haben Sie später Ihrem Vater Ihre Gedichte gezeigt?

 Ich glaube, ich musste ihm meine Gedichte gezeigt habe, als er in Pisa war.

 Hat er etwas dazu gesagt?

 Das weiß ich nicht mehr. Müsste die Briefe wieder mal durchlesen.

 Und wie war Ihre Mutter?

Meine Mutter war streng. Sie hat ihr 100-jähriges hier auf der Brunnenburg gefeiert. Wir sind eine langlebige Familie, leider Gottes.

 Wie sind Sie auf die Brunnenburg gekommen?

 Wir sind auf eine komische Weise gekommen. Weil mein Mann von Martinsbrunn aus die Brunnenburg gesehen hat. Und nach Martinsbrunn sind wir gekommen, weil mich mein Arzt in Bruneck zur Niederkunft nach Martinsbrunn geschickt hat, wo damals zwei Nonnen aus Gais waren. So sind wir hierher gekommen.

Auf der Brunnenburg gingen bald große Schriftsteller und Intellektuelle aus und ein, sie wurde ein kultureller Ort und Stelldichein großer Namen.

 Ja, das schon, aber das war, weil ich ja auch immer Geld gebraucht habe. Wie kann man so ein dummes Schloss erhalten. Manchmal kamen nette Leute, aber nicht immer. Aber man hat halt versucht, unter den Freunden zu sagen, wenn ihr wollt, auf der Brunnenburg gibt es Küche und Bad und ich wäre froh, wenn ich es an Leute vermieten könnten, die interessant waren.

 Erzählen Sie von Ihrem Schreiben! Was hat Schreiben für Sie bedeutet?

 Ich weiß nicht. Ich habe halt versucht, irgend etwas auszudrücken. Sagt man das so auf Deutsch? Ausdrücken?

 Ja, ausdrücken, es heißt so.

 Ja, ich habe versucht, etwas auszudrücken.

 Wann schrieben Sie auf Italienisch und wann auf Englisch?

 Ich weiß nur, dass man damals in die italienische Schule gehen musste und dass es eine Katakombenschule gab, beim Blassingen, das war unser Nachbar in Gais. Das war ein Doppelhaus und da war eine zweite Stube und die war heimlich, dort hat man Deutsch unterrichtet. Und es wurde uns empfohlen, auf Tafeln zu schrieben, nicht auf Papier, damit man es, falls die Italiener kommen, gleich auslöschen konnte. Es wurde uns auch gesagt, man soll in gotischer Schrift schreiben. Aber das musste man alles verheimlichen, so, wie man den Zacharin verheimlichen musste.

 Warum?

 Weil ich denke, dass Italien viel Zucker produziert hat und Zacharin den Zucker ersetzt hat, weil es auch viel billiger war, ein bisschen Zacharin als 1 Kilo Zucker. Man hat halt gewusst, dass Zacharin verboten war. Deswegen hat die Sama Mamme den Zacharin immer in der Tasche getragen.

 Sind Sie von Florenz in den Ferien wieder zurück nach Gais gefahren.

 Immer wieder ist zu viel gesagt. Aber als ich gehört aber, dass ich zu Weihnachten wieder nach Gais komme konnte, war ich so glücklich.

 Im Sommer kamen Sie auch nach Gais?

 Ja, nach Gais und ab und zu nach Siena in den Palazzo Chigi. Weil meine Mutter hat damals in Siena die Musikschule geleitet. Deswegen konnte meine Mutter im Palazzo Chigi wohnen und essen. Und ich konnte dann halt mit dabei sein. Deswegen habe ich öfters im Palazzo Chigi gewohnt.

 Kam da auch Ihr Vater?

 Nein, der hatte in Siena nichts zu suchen, obwohl er, wenn es die Settimana Musicale gab, gekommen ist und wir beide sind dann immer, weil uns die Mamma nicht tra i piedi haben konnte, in Siena in die pasticceria gegangen, um etwas Besonders zu essen und ich weiß, dass meine Mutter immer geschimpft hat, weil sie gesagt hat, wir werden beide zu dick.

 Und in Rapallo?

 Rapallo war für mich immer ein Problem, weil ich ja nicht existierte. In Rapallo war Dorothy und Dorothy hat mit meinem Vater in Rapallo gelebt. In Rapallo waren auch meine Großeltern und ich war dann halt zu viel. Meine Mutter war oben in Sant`Ambrogio. Und mein Vater ist dann immer nach Sant`Ambrogio gekommen und dort haben wir dann zusammen Tee getrunken und er hat mich unterrichtet am Weg. Ich konnte mit ihm den Weg von Sant`Ambrogio nach Rapallo gehen. Aber dann in Rapallo nicht mehr. In Rapallo war ich zu viel.

 War das schmerzlich?

 Ich weiß nicht. Vielleicht war ich froh?

 Haben Sie mit Ihrem Vater auch über Literatur gesprochen?

 Es kann sein, ich habe versucht, Gedichte zu schreiben. Und natürlich habe ich sie ihm gezeigt. Aber er war dann bald in Pisa.

 Sie haben ein ganzes Jahrhundert auf dem Buckel. Was war das für ein Jahrhundert?

 Na ja, es war der Krieg, deswegen kann man es nicht ein gutes Jahrhundert nennen. Aber mir ist es immer gut gegangen, wenn man denkt, dass Krieg war. Dass ich in einer sehr unsicheren Lage war, weil ich ja eine Amerikanerin und deswegen Feind war. Man wird so schläfrig, wenn man alt ist. Schlaf ist meine liebste Beschäftigung. Ich schlafe so gerne.

Träumen Sie?

Ich denke schon, aber meistens vergesse ich es.

Interview: Christine Vescoli

 

Zur Person

Mary de Rachewiltz wurde am 9. Juli 1925 als Tochter des Schriftstellers und herausragenden Vertreters der literarischen Moderne Ezra Pound (1885 – 1972) und der Violinvirtuosin Olga Rudge in Brixen geboren. Da Ezra Pound mit der Künstlerin Dorothy Shakespear verheiratet war, wurde Mary von einer Bauernfamilie in Gais als Pflegekind aufgezogen. Ihre Muttersprache war daher der Pusterer Dialekt, sie lernte jedoch von ihren leiblichen Eltern Englisch sowie Italienisch und Französisch in einem privaten Gymnasium in Florenz. Diese Vielsprachigkeit prädestinierte sie zu ihrer späteren umfangreichen Übersetzungstätigkeit. Aus ihrer umfangreichen Übersetzungstätigkeit sind v.a. die italienischen Übersetzungen der „Cantos“, von denen ihr Vater die letzten sechs auf der Brunnenburg geschrieben hatte, wichtig.

1946 heiratete sie den Ägyptologen Boris de Rachewiltz, den die Kriegsereignisse nach Südtirol verschlagen hatten; mit ihm hatte sie zwei Kinder, Siegfried (1947) und Patrizia (1950). Neben ihrer Arbeit als Übersetzerin und Schriftstellerin kümmerte sie sich vor allem um die Erziehung ihrer Kinder, die Restaurierung der gemeinsam mit ihrem Gatten erworbenen Brunnenburg oberhalb von Meran und setzte sich für die Rehabilitierung ihres durch seine antisemitische und profaschistische Haltung kompromittierten Vaters ein. Pound war nach dem Krieg wegen Hochverrats von den Amerikanern festgenommen worden. Einer Nachkriegsverurteilung und möglichen Todesstrafe entging er nur, weil er von einem Gutachter für geisteskrank erklärt wurde. Die nächsten zwölf Jahre verbrachte er in einer staatlichen Heilanstalt in Washington, D.C. 1958 wurde er auf Initiative von T. S. Eliot, Ernest Hemingway und anderen entlassen und lebte bis zu seinem Tod auf der Brunnenburg und Venedig.

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