Die Kapitulation
In Südtirol haben 32 Prozent der Arbeitnehmenden eine private Krankenversicherung abgeschlossen. Tendenz steigend.
von Artur Oberhofer
Andreas Dorigoni spricht von einer „Kapitulation vor den Umständen“.
Die Privatmedizin, so der AFI-Präsident, sei auch in Südtirol auf dem Vormarsch. Sprich: Immer mehr Menschen nutzen private Gesundheitseinrichtungen, um lange Wartezeiten im öffentlichen Gesundheitswesen zu vermeiden.
Im Moment seien Arbeitnehmende, die eine private Krankenversicherung abgeschlossen haben, zufrieden mit ihrer Wahl, doch Andreas Dorigoni warnt: „Wir dürfen nicht vergessen, dass die hypothetische Ausbreitung eines privaten Systems vor dem Hintergrund eines öffentlichen Gesundheitswesens, das nur auf Notfälle ausgerichtet ist, für chronisch oder schwer kranke Menschen zu unzumutbaren Situationen führen würde.“
Das AFI hat nun erhoben, wie viel die Südtiroler Arbeitnehmenden für Gesundheitsleistungen ausgeben. Und: Wie weit private Krankenversicherungen bereits verbreitet sind.
Die Arbeitnehmenden in Südtirol geben an, dass sie sich mit ihren Anliegen in Sachen Gesundheit häufig an private Anbieter wenden. Aufgrund der chronischen Organisationsmängel im öffentlichen Gesundheitswesen wird die Inanspruchnahme privater Dienstleistungen oft zur Notlösung. „Nicht zuletzt wegen der Versicherungen, die einen breiten Schutz versprechen und die Erwartungen der Kunden offenbar ausreichend erfüllen, greifen viele auf eine kostenpflichtige Versorgung zurück“, sagt AFI-Direktor Stefan Perini.
Privatausgaben vor allem für Fachvisiten
Wie das AFI-Barometer verdeutlicht, haben in den letzten 12 Monaten 42% der Befragten private medizinische Leistungen in Anspruch genommen – ein hoher Prozentsatz, wenn man bedenkt, dass es sich bei den Nutzern um Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen handelt, deren Löhne oft nicht mit den Lebenshaltungskosten Schritt halten, so heißt es beim AFI.
67% der Antwortenden gaben an, sich aufgrund von dringenden Umständen an private Gesundheitseinrichtungen gewandt zu haben, während für 33% hingegen die vermutete bessere Qualität ausschlaggebend gewesen ist.
Nur etwa jede fünfte Person gab in den letzten 12 Monaten keinen Cent für medizinische Versorgung oder Medikamente aus, während jede zweite zwischen 0 und 500 € aus der eigenen Tasche bezahlt hat. Jede fünfte wiederum gab zwischen 500 und 2.000 € aus.
Mehr als 2.000 € gaben zwischen 5% und 7% der Befragten aus – entweder für sich oder für die eigene Familie. Bei den Gesundheitsausgaben sind Fachvisiten der wichtigste Posten.
Es folgen die Ausgaben für Medikamente (37% bzw. 39%) und schließlich die Ausgaben für chirurgische Eingriffe (5% bzw. 8%).
Private Krankenversicherung weit verbreitet
Etwa ein Drittel der Befragten hat bereits eine Krankenversicherung für sich selbst oder für die ganze Familie abgeschlossen, während 18% diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Aufgeschlüsselt nach Sprachgruppen steigt der Anteil der bereits versicherten Personen bei den deutschsprachigen Befragten auf 35%, während er bei den italienischsprachigen bei etwa 25% liegt – eine Zahl, die mit den gesamtstaatlichen Daten einer von der Wirtschaftszeitschrift Milano Finanza im Jahr 2023 veröffentlichten Studie exakt übereinstimmt. „Die Hiobsbotschaften über den Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens und eine verstärkte Werbung für Versicherungsprodukte haben offensichtlich bereits die Gewohnheiten der Südtiroler Arbeitnehmer beeinflusst“, stellt AFI-Forscherin Maria Elena Iarossi fest.
Die Zufriedenheit mit den privaten Krankenversicherungen ist aktuell recht hoch: Auf einer Skala von 1 (überhaupt nicht) bis 5 (sehr) geben 67% derjenigen, die eine Krankenversicherung abgeschlossen haben, an, zufrieden zu sein (Bewertungen zwischen 4 und 5 Punkten). Andererseits waren nicht unerhebliche 12% der Versicherten unzufrieden (Bewertung 1 oder 2 Punkte).
Bei diesen Ergebnissen, so heißt es beim AFI, müsse man sich allerdings vor Augen halten, dass die Befragten der Gruppe der Erwerbstätigen angehören, d.h. sie sind weniger als 65 Jahre alt, in der Regel bei guter Gesundheit oder haben zumindest keine größeren gesundheitlichen Probleme.
Sie zählen somit zur idealen Klientel für Versicherungsgesellschaften: Die Versicherten stellen eine ausreichend große und zudem kostengünstige Gruppe in Bezug auf die Leistungen dar, die im Schadensfall bedarfsgerecht unterstützt werden müssten. Allerdings warnen Experten bezüglich der Erweiterung des Versichertenkreises bereits vor künftigen Anpassungen der Versicherungen, die durch eine aufmerksame Kalibrierung der Selbstbeteiligungen und Zuzahlungen die Rentabilität für die Versicherungsgesellschaften auf einem angemessenen Niveau halten sollen.
Das AFI rät dazu, beim Abschluss von Versicherungspolizzen besonders auf die Ausschlussklauseln zu achten – vor allem auf die Altersgrenzen, die oft bei 69 Jahren liegen.
Zudem wirft das AFI eine grundsätzliche Frage auf: Wie viel Spielraum bleibt für andere Konsumgüter, wenn Arbeitnehmende zunehmend für Renten- und Gesundheitsleistungen privat aufkommen müssen, zugleich aber die Wohnkosten nicht sinken und die Löhne stagnieren?
Eine Studie des Forschungszentrums Intesa San Paolo kommt zum Schluss, dass sich, auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, die Zusammensetzung des Warenkorbs der Verbraucher mittelfristig deutlich verschieben könnte – hin zu einem steigenden Kostenanteil der Ausgabenkapital „Wohnen“ und „Gesundheit“.
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