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Mama der Letzten

Anna Teresa Sittoni ist seit 42 Jahren Sozialpflegerin im „Padiglione Pandolfi“, der übriggebliebene Rest des ehemaligen „Pergine“.

von Florian Kronbichler

Die Vergangenheit zu verklären, gilt allgemein als Zeichen von Alter. Ich habe eine Schwäche für Gefängnisse und Irrenhäuser. Den immer „inhuman“ geschimpften alten Kerker von Bozen halte ich – wissen eh alle – für einen der humansten Italiens, von Österreich gar nicht zu reden.

Und die ehemalige Irrenanstalt von Pergine ist ein Juwel der Psychiatrie-Geschichte. Ich besuche sie seit 30 Jahren.

Seit 40 Jahren gilt sie offiziell für „geschlossen“, gesetzlich aufgelöst, so wie alle „psychiatrischen Krankenhäuser“. Dem Triestiner Psychiatrie-Reformer Franco Basaglia und „seinem“ Gesetz sei Dank. Pergine, drittgrößte Gemeinde des Trentinos und Hauptort der oberen Valsugana, arbeitet seither an der Überwindung ihres Rufs als „città dei matti“. Die 20 ha große, vor 150 Jahren in kaiser-königlichem Stil erbaute und mit großzügigen Parkanlagen ausgestattete Anstalt  beherbergte zu ihrer „besten“, also schlimmsten Zeit bis zu 1.500 Patienten, allesamt aus dem damals südlichen Teil Tirols.

Und was ich dort suche, wenn eh nichts mehr ist?

Wenn „Pergine“ aufgelassen ist und die Stadtgemeinde ihr „Ospedale psichiatrico“ schon umgewidmet hat in Schulen, Sozialzentren und Event-Zentren, ja, was suche ich da noch? „Eh, finché siam vivi, resisteremo“, sagt Mama Anna.

Anna heißt mit bürgerlichem Namen Anna Teresa Sittoni. Seit 42 Jahren ist sie Sozialpflegerin im „Padiglione Pandolfi“, einem der ehemals fünf oder sechs kasernenartigen Gebäude der Klinik. Das Pandolfi ist der übriggebliebene Rest des ehemaligen „Pergine“. Hier sind die Überlebenden der Psychiatriereform einquartiert. Zwei Dutzend sind es noch, Männer und Frauen, sieben davon aus Südtirol. Es hat sie niemand abgeholt. Nicht die Familien, so sie eine solche noch hatten, nicht das autonome Land Südtirol, das die „Kompetenz“ dafür hätte. Zur Ehrenrettung des Landes sei gesagt, dass es neuerdings für „seine“ Pergine-Patienten einen Tagessatz zahlt. Das zumindest.

Als ich vor zwanzig Jahren einmal dort war, kam ich mit einem Burggräfler Patienten ins Gespräch. Er war damals bereits länger da, als jeder Pfleger sich zurückerinnern konnte. Stolz erzählte er mir, dass er „teitsch“ sei. Besuch bekam er nie. Im Haus galt er als „der Politische“. Natürlich klagte er über die Umstände, die ihn seinerzeit nach Pergine brachten, aber … „obr die Hoamat, die sell hobn sie ins net dernummen“. „Obr die Hoamat net …“ Den Satz vergaß ich nicht mehr. Jetzt, vergangene Woche, war ich wieder dort, und Manfred immer noch da. Reden tut er nicht mehr.

Signora Anna führt mich durch die Zimmer. Die Südtiroler, drei Frauen, vier Männer, spricht sie deutsch an. Sie kannn ein bisschen und tut es wahrscheinlich meinetwegen. Ihre Schutzempfohlenen, „meine figlioli“ heißt sie sie, verstehen ohnehin alle besser italienisch. Besuche gibt es selten bis gar nicht. Vom Vinzenzverein seien früher welche gekommen. Inzwischen nicht mehr. Und was die „Hoamat“, die vergessliche, anlangt: „È qui casa nostra“, sagt Frau Anna bestimmt. Ich finde kein Argument zu widersprechen. Es wird nicht alles so eitel Wonne sein, wie Anna es darstellt. Von Ausflügen erzählt sie, früher, von Wettspielen, von Aufführungen. Als sei „Pergine“ ein Kurhotel. Das ist es nicht. Aber alle, denen das Schicksal unserer vergessenen Pergine-Überlebenden jetzt das Herz bricht, seien versichert: Sie heute noch umzusiedeln, und wäre es auch nach Südtirol, hieße, ihnen Gewalt antun.

Der Rest von „Pergine“ ist ein Altersheim, nicht mehr und nicht weniger. Lichte Zweibett-Zimmer mit Bad, großer Gemeinschaftsraum mit verglasten Veranden, hauseigene Küche – alles offen, es läuft ja niemand mehr davon. Alle hier haben Erfahrung mit Großraum-Lagern, getrennt nach Geschlecht und Krankheitsbildern, und systematisch überbelegt. Da fällt späte Zufriedensein nicht schwer. „Wir sind zusammengewöhnt“, sagt Signora Anna. Ab und zu stirbt jemand, Junge kommen keine mehr nach. Anna ist die Dienstälteste vom Personal. Mit 19 ist sie eingetreten – in die „Fabbrica“, wie die Perginesi die Anstalt heißen. „Da hatten noch alle die gleiche Häftlingsmontur“, erinnert sie sich. Die „figlioli“ rufen sie Mama. Bald geht Mama in Pension. Ihre „Figlioli“ bleiben, bis sie sterben. Pergine auf lebenslänglich.

 

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (2)

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  • andreas

    Ich fand die Artikel und Kommentare von Kronbichler eigentlich immer schon recht steigerungsfähig,bzw. kann ich mit seinen Artikeln und Meinungen nichts anfangen.
    Der übertrifft aber nochmals alles und bei der Annahme, dass „alle“ wissen, wie er das Bozner Gefängnis beurteilt, liegt er wohl eher falsch.

    Man muss nicht zwingend so despektierlich über Pergine und die derzeitigen Bewohner schreiben, das ginge auch etwas moderater.

  • sabine

    Menschen, die ihre Heimat nicht mehr sehen, und keinen besuch bekommen….auch die menschen haben wohl eine geschichte….ein bericht, der mich zutiefst traurig macht

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