Du befindest dich hier: Home » Kultur » Präzise Übertreibungen

Präzise Übertreibungen

Die Eingangstür  zum Pharmaziemuseum ist Blister-Tablettenpackungen nachgebildet

Das Brixner Pharmaziemuseum gehört, mit allen Risiken und Nebenwirkungen, zu den schönsten Museen Südtirols. Der Künstler Manfred Alois Mayr hat den Eingangsbereich einer alternativmedizinischen Therapie unterzogen.

Der „Geistrohr-Luster“ am Deckengewölbe und die Bronzepillen: Homöopathisches Vorspiel auf die eigentlichen Ausstellungsräume.

 

Verpackungsmaterial, spätestens mit Kurt Schwitters Merzkunst und Andy Warhols aus Holz gefertigten „Brillo Boxes“ kunstwürdig geworden, ist für Manfred Alois Mayr eine stete Quelle formaler Inspiration. Ein Beispiel: Die Fassade des Vorarlberger Landesmuseums hat er mit Betonabgüssen von PET-Flaschen gestaltet, die ein reliefartiges, ornamentales Muster bilden. So abstrakt die kompositorischen Elemente auf den ersten Blick wirken, es handelt sich keineswegs um eine beliebige Ästhetisierungsmaßnahme: die Gefäßböden folgen der Spur, die von römischem Tafelgeschirr und der „Kopfüber-Präsentation“ von Behältern im Inneren des Museums zu den heutigen PET-Flaschen führen.

Der Handlauf aus Holz und Hartwachs

Vorfindliche Räume, ganze Gebäude, Licht und Schatten, Atmosphäre, Proportionen und Maßstab, architektonische Details, Zwischenräume und Raumnutzung wahrnehmen, erlauschen, spüren, erfassen, ihre Seele begreifen, um den nötigen Boden unter die Füße zu bekommen und sie in eine zwingende neue Gestalt zu übersetzen, darum kreist die gesamte künstlerische Arbeit des Vinschger Künstlers. „Ich durchschreite einen Raum oder ein Gebäude wie ein Wünschelrutengänger und warte ab, ob überhaupt und an welcher Stelle das architektonische Objekt in mir eine Zündung für eine künstlerische Intervention hervorruft“, sagt er in einem Gespräch mit der Tageszeitung.

Manfred Alois Mayr gesehen durch die Blisterpackung-Tür

Wie grundlegend und grundsätzlich das erste und essentielle Arbeitsinstrument und damit wichtigstes Material seine eigene Wahrnehmung ist, kann man einmal mehr an seiner neuesten Intervention ablesen. Für das von Elisabeth und Oswald Peer mit dem Verein Recipe aufgebaute und geführte Brixner Pharmaziemuseum – ohne Zweifel eines der schönsten Museen Südtirols – hat er jetzt den Eingangsbereich in Zusammenarbeit mit den Kurtorinnen Petra Paolazzi und Marion Piffer Damiani neu gestaltet. Der historische Eingang zu der pharmaziehistorischen Fundgrube, die nicht weniger als 400 Jahre Apothekengeschichte lückenlos umfasst und liebevoll präsentiert, wird von Lieferanten, Hausbewohnern, Arztpraxen und eben Museumsbesuchern genutzt – eine Multifunktionalität, die der Aura des Entrées nicht eben gut  getan hat.

In seiner Praxis des Sehens („der ich immer ausgeliefert bin“) verdichtet Mayr den Raum einerseits mit Utensilien aus dem Inventar des Museums, andererseits mit Artefakten, die nach der Methode präziser Übertreibung operieren.

Das beginnt schon vor dem eigentlichen Eingang.  Unmittelbar neben dem Hauseingang schlängelt sich eine Schlangenskulptur aus dunkler Bronze über die Fassade hinauf. Die Asklepios-Natter, die auch im historischen Schild der Peer-Apotheke auftaucht und als Symbol der Heilkunst gilt, ist auf Augen- und Griffhöhe angebracht – man muss sich halt trauen.

Das auffälligste Teil ist die Eingangstür, die in hartem Kontrast zum historischen Baustil steht. Eine High-Tech-Tür (schließlich ist Pharmazie High-Tech) in Aluminium und Riffelblech mit Rauten-Prägung, die den Eintritt zur Heilrätselkammer eröffnet und mimetisch den Blisterpackungen für Tabletten nachgebildet ist. Runde Öffnungen geben den Blick ins Innere frei, in anderen Kammern sind noch rosafarbene Tabletten mit der typischen Buchstabenkennzeichnung zu sehen.

Im Inneren des Entrées richtet sich der Blick sofort auf den Leuchtkörper an der Gewölbedecke. Der „Geistrohr-Luster“ ist mit historischen Glas- und Laborgefäßen sowie zwei PET-Flaschen aus dem Laboralltag bestückt. Als Geistrohr bezeichnet man die Rohrverbindung zwischen Helm und Kühleinrichtung beim Destillieren, weil der Geist des Destillates dort durchgeleitet wird – ein wunderbares Symbol für das Pharmaziemuseum und seine Besucher. Das vielarmige Kunstobjekt ist Leuchtkörper und Beleuchtungskonzept in einem und macht wie ein homöopathisches Vorspiel neugierig auf die eigentlichen Ausstellungsräume.  „Ich operiere fast wie mit einer alternativmedizinischen Behandlungsmethode und versuche räumliche Blockaden bzw. den Kreislauf der historischen Baustruktur praktisch zu lösen bzw. zu verjüngen“,  sagt Mayr.

In einer Ecke des Entrées sind überdimensionale Pillen aus polierter Bronze platziert, die Bezug auf die einstmals teuren, für eine wohlhabende Kundschaft zusätzlich auch noch mit Gold umwickelten Pillen aus dem Museumsbestand nehmen. Zwei Wandvitrinen, eine hinter blauem Glas, die andere farblos, ergänzen das Raumprogramm. Die Vitrine mit Blauglas ist mit aktueller Apothekenware bestückt, in der transparenten lagern historische Gefäße und Arzneien aus der Historie des Hauses. Den Aufgang zu den Museumsräumen hat der Künstler mit einem Handlauf bestückt, der abwechselnd aus Holz und Hartwachs gefertigt ist. Kalte und warme Materialität geleiten einen über die bloße Funktion des Stützens hinaus durch das Treppenhaus – Wahrnehmung wird da durch einen einfachen Kunstgriff selbst wahrnehmbar gemacht.

Wie der Künstler als Resonanzkörper durch das Gebäude geht, folgt man ihm als Besucher. Je subjektiver – desto objektiver. Aber Vorsicht: Es herrscht ästhetische Ansteckungsgefahr. ( Heinrich Schwazer)

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentar abgeben

Du musst dich EINLOGGEN um einen Kommentar abzugeben.

2024 ® © Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH/Srl Impressum | Privacy Policy | Netiquette & Nutzerbedingungen | AGB | Privacy-Einstellungen

Nach oben scrollen