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Wie findet ihr Nemo?

Nemo (Foto: WMA-Screen/FB)

Der ESC-Sieg des non-binären Nemo aus der Schweiz hat die Diskussion um ein drittes Geschlecht neu entfacht. Warum diese gesellschaftliche Neuentwicklung eine differenzierte Betrachtung braucht und eine schnelle Lösung nicht in Sicht ist.  

von Sandra Fresenius

Als am vergangenen Wochenende der Eurovision Song Contest mit dem Sieg Nemos endete, löste dies nicht nur musikalisch betrachtet Aufmerksamkeit aus. Sein Song „The Code“ thematisiert die Identitätsfindung einer non-binären Person, die sich weder als Mann noch als Frau fühlt. Die deutschsprachigen Länder gehen bislang ganz unterschiedlich mit dieser Thematik um. Während in der Schweiz Geschlechtseinträge für non-binäre Personen noch nicht möglich sind, können diese in Deutschland seit 2018 den Geschlechtseintrag „divers“ wählen oder den Eintrag komplett streichen lassen. Im gleichen Jahr gestand auch Österreich intergeschlechtlichen Menschen das Recht auf Eintragung zu. Mittlerweile wird dort bereits über sechs Optionen zur Geschlechtseintragung diskutiert: weiblich, männlich, inter, divers, offen oder „keine Angabe“. Im Südtiroler Landtag hätte dieses Thema bisher eher eine sehr untergeordnete Rolle gespielt, weiß der Landtagsabgeordnete der Südtiroler Freiheit Sven Knoll: „Für mich gibt es nur zwei Geschlechter: das männliche und das weibliche. Alles andere ist eine persönliche Frage, die jeder für sich selber beantworten muss.“

Es wäre zwar die Pflicht des Gesetzgebers, gegen jegliche Form der Diskriminierung vorzugehen, so Knoll, auch wenn er der Meinung ist, dass nicht hinter jeder Äußerung oder Anrede die Absicht der Diskriminierung stehen würde. Vielmehr jedoch würde sich die Gesellschaft selbst in vielen Bereichen ihre Freiheiten nehmen. So wären Dinge, die noch vor Jahrzehnten undenkbar waren, heute gesellschaftlich akzeptiert. „Es muss nicht immer alles die Politik lösen, manche Dinge lösen sich in der Gesellschaft auch von alleine“, sagt Knoll.

Auch die vor allem durch die Medien publik gewordene Diskussion über ein drittes Geschlecht würde inzwischen bereits gesellschaftlich ganz anders wahrgenommen. Allerdings würde nun wiederum durch die starke Fokussierung beinahe der Eindruck entstehen, dass „alle so wären“. Doch daneben würde es eben weiterhin auch die geben, die ein ganz „normales“ Leben führen und sich mit einem dritten Geschlecht nicht identifizieren könnten. Und diese müssten weiterhin genauso berücksichtigt werden, so Knoll. „Die gesellschaftliche Wahrnehmung von bestimmten Personengruppen ist oft in den Medien eine ganz andere, als die Lebensrealität vieler Menschen“, betont der Landtagsabgeordnete der Südtiroler Freiheit.

Parlamentarier Manfred Schullian sieht hier gleichfalls eine große gesellschaftliche Herausforderung und Neuerung, die „erst einmal verdaut werden müsste“. Die Thematik sei in Südtirol noch eher neu. Im grundsätzlich konservativen Italien würden immer noch stark ausgeprägte Rollenklischees und der Einfluß der Kirche einem offenen Umgang mit der Frage eines dritten Geschlechts im Wege stehen. In Großstädten wie Berlin dagegen wäre die Entwicklung demgegenüber weitaus fortgeschrittener. Die nun ausgelöste Diskussion könne, so Schullian, zwar der erste Schritt zu einer Eintragung eines dritten Geschlechts sein, gleichwohl jedoch wiederum neue Diskussionen auslösen, weil sich andere Gruppen diskriminiert fühlen könnten – immerhin gibt es über 70 verschiedene Geschlechter.

Die Umsetzungen Österreichs und Deutschlands bewertet Schullian mehr als Versuche, mit dieser Thematik umzugehen, denn als endgültige Lösung. „Es ist damit im Moment noch eine große Hilf- und Orientierungslosigkeit verknüpft. Wir sind noch in einer Versuchsreihe. Irgendwann wird sich ein System etablieren, was funktionieren und dann europaweit ausgedehnt werden kann“, so der Parlamentarier. Auch Sven Knoll überzeugt weder die deutsche noch die österreichische Lösung.

Der Entscheidung, welchem Geschlecht man sich zugehörig empfindet oder ob man sich überhaupt zu einem Geschlecht zurechnet, würde ein langer Prozess der Identitätsfindung vorausgehen. „Das ist eine sehr komplexe Diskussion und geht an der Problematik vorbei, die Menschen zu schützen, die tatsächlich diskriminiert werden. Man kann jetzt nicht einfach alle und jeden anerkennen, um das Problem zu lösen. Dazu braucht es gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen. Der Gesetzgeber kann aber nicht immer auf die individuelle Lebenssituation Rücksicht nimmt“, meint Knoll.

Für den Schutz der Allgemeinheit indes müsse die Gesetzgebung eine Unterscheidung machen und darauf Rücksicht nehmen, dass es Unterschiede gibt. Es dürfe nicht sein, dass derjenige, der sich „normal“ fühlt, sich jetzt weniger wert, fast schon zurückgestellt oder gar als zurückgeblieben und antiquiert fühlt. Auch wenn sich in der Gesellschaft Grenzen immer mehr verschieben und aufweichen, findet der Abgeordnete Knoll: „Es muss doch für alle Platz sein. Warum sollen deren Rechte mehr wert sein als die der anderen.“ Die Öffnung für Neues sollte nicht zwangsläufig das Konventionelle verbieten und verhöhnen, denn das hätte dann ebenso wenig mit Toleranz zu tun, meint auch der Parlamentarier Schullian.

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