„Ein schrilles Wettsingen“
Der Eurovision Song Contest erfreut sich noch immer großer Beliebtheit. Der Musikexperte Peter Obexer erklärt, warum der ESC ein Millionenpublikum begeistert, was ihn von anderen Musikbewerben unterscheidet – und wer heuer die Favoriten sind.
Tageszeitung: Herr Obexer, diese Woche steht alles im Zeichen des 68. Eurovision Song Contest. Verfolgen Sie den ESC nach wie vor?
Peter Obexer: Der ESC gehört wie früher die „ZDF-Hitparade“ oder „Disco“ zum Pflichtprogramm eines ehemaligen Musikredakteurs.
Der ESC ist der älteste im Fernsehen ausgestrahlte internationale Musikwettbewerb. Warum ist der ESC immer noch so beliebt?
Der ESC wurde 1956 von der Europäischen Rundfunk Union gegründet, um ein geteiltes Europa zu einen. Es ging darum, Länder durch Musik und Unterhaltung zusammenzubringen. „United by Music“ lautet auch das Motto des heurigen Wettbewerbs. Es ist ein schrill-schräges Wettsingen von Island bis Australien, wobei nicht immer der Beste gewinnt.
Der ESC war ursprünglich ein Schlagerwettbewerb, die Beiträge heute sind bunt und vielfältig. Macht das den Contest so besonders?
Früher war es ein reiner Schlager- bzw. Chansonwettbewerb: Der Grand Prix Eurovision de la Chanson. Heute geht es weniger um den Song, sondern mehr um das ganze Drumherum – ein Show- und Marketing-Spektakel der Superlative.
Sind die Beiträge oft fast schon zu bunt und speziell?
Die ganze Welt ist bunt, speziell und voller Farben – und die Welt der Farben ist voller Faszination. Es ist gut anders zu sein und ein bisschen Farbe in den grauen TV-Alltag zu bringen.
Mittlerweile gibt es im TV viele verschiedene Musikwettbewerbe, von DSDS bis The Voice usw. Während aber viele dieser Wettbewerbe um Zuschauer und Quoten kämpfen, erreicht der ESC jedes Jahr mehr als 180 Millionen Zuschauer…
Der ESC hat das gewisse Etwas, was Castingshows nicht haben. Bei DSDS z.B. sehe ich nur noch Pleiten, Zahnpasta-Werbung und immer wieder Dieter Bohlen, den keiner mehr hören und sehen kann. Beim ESC votet in jedem Land eine völlig unabhängige Fachjury, gekoppelt an ein Zuschauer-Voting. Diese Punktevergabe der Länder an andere Länder – nicht aber an sich selbst – ist mit Sicherheit das Highlight des ESC. Wie heißt es am Ende meistens so schön aus Österreich: 0 Punkte für Deutschland!
Wie politisch ist der ESC mittlerweile und hat sich das über die Jahre verändert?
Die weltpolitische Lage macht auch vor dem ESC nicht halt. Auch wenn die EBU als Veranstalter gebetsmühlenartig wiederholt, dass es sich um eine Kulturveranstaltung handle, bei der Politik nichts zu suchen habe. Als 1978 in Paris klar war, dass Israel mit Izhar Cohen gewinnen würde, brach Israels Nachbarland Jordanien die Übertragung ab und verkündete frech den belgischen Beitrag als Siegertitel. Weiteres Beispiel: Nach der Teilung Zyperns (1974) standen sich Griechenland und die Türkei feindlich gegenüber. 1975 boykottierte Griechenland den ESC, 1976 nahm die Türkei nicht teil, übertrug die Show aber im Fernsehen. Während des griechischen Beitrags wurde die Sendung unterbrochen und stattdessen ein nationalistisches türkisches Lied gespielt. 2009 wurde Georgien ausgeschlossen: Der Grund war ein antirussisches Wortspiel im Titel des Songs „We Don’t Wanna Put In“. Der Rausschmiss Russlands 2022 aus dem ESC-Teilnehmerfeld ist eine Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine. In diesem Jahr wird der Musikwettbewerb gleich von zwei Kriegen überschattet.
Was waren in all den Jahren Ihre persönlichen Höhepunkte und Tiefpunkte?
Mein ESC-Höhepunkt war natürlich 2015 in Wien – Dank dem Sieg von Conchita – wo ich live dabei war und für Rai Südtirol kommentieren durfte. Den Tiefpunkt erlebte ich 1981, als ich beim Militär in Toblach war und zum „contrappello“ rechtzeitig in die Kaserne musste, und daher nicht wusste, wer gewonnen hat, da ich die spannende Punkteverteilung, die sich ja immer in die Länge zog, nicht mehr mitverfolgen konnte.
Italien hat in den letzten Jahren relativ gut abgeschnitten. Deutschland hingegen sehr schlecht. Sind die Deutschen unbeliebt oder schicken sie die falschen Teilnehmer ins Rennen?
Der deutsche Misserfolg der vergangenen Jahre hat viel mit dem schwachen Vorentscheid zu tun. In Schweden und in Italien werden große nationale Song-Festivals ausgerichtet; es ist eine Ehre für jeden Musiker, dort zu gewinnen. Der deutsche Vorentscheid ist eine Spaßveranstaltung mit Barbara Schöneberger und Käseigel auf dem Studiotisch. Deshalb will auch kein großer deutscher Star mehr zum ESC. Die Gefahr, dort wieder nur auf den hinteren Plätzen zu landen, ist inzwischen so groß, dass sich keiner dieser Schmach noch aussetzen will. Stattdessen wird dort Jahr für Jahr ein junges Talent wie jetzt Issak verbraten.
Heuer soll sich ein Duell zwischen Kroatien und der Schweiz anbahnen. Wen sehen Sie als Favorit?
Die Buchmacher setzen auf Kroatien und die Schweiz. Meiner Meinung nach haben auch Belgien, Israel und Italien sehr gute Chancen zu gewinnen. Aber Italien sollte besser nicht mehr gewinnen, denn allein die Austragung des ESC soll 15 bis 20 Millionen Euro kosten, hat mir ein hoher Rai-Funktionär ins Ohr geflüstert.
Interview: Lisi Lang
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