Wird Musik nie alt?
Der gebürtige Malser Kirchenmusiker und Organist Marian Polin ist ein Spezialist für Alte Musik. Neben seiner Lehr- und Konzerttätigkeit sucht er nach verschollenen Werken unter anderem im Marienberger Musikarchiv. Forschergeist und Entdeckungslust sind für ihn Voraussetzung, wenn man sich mit „Alter Musik“ befasst.
Tageszeitung: Herr Polin, erzählen Sie uns etwas über ihren musikalischen Werdegang.
Marian Polin: Vielleicht kann ich dazu soviel sagen: ich bin als Jugendlicher in eine klein strukturierte musikalische Umgebung hineingewachsen. Das regelmäßige Musizieren in den Kirchen des Obervinschgaus hat mich rückblickend sehr geprägt. So konnte ich einerseits den Älteren über die Schulter schauen und vieles lernen, das bis heute gültig und nützlich ist – aber auch ganz unkompliziert und von Wohlwollen begleitet eigene Ideen, wie einen Jugendchor, ausprobieren. Die meisten Nachwuchsmusiker probieren verschiedenste Stilrichtungen aus, bevor sie sich für etwas entscheiden, in meinem Fall war es die Reihenfolge: Orgel – Chormusik – Alte Musik. Die Findung des individuellen künstlerischen Ausdrucks geht wohl ein Leben lang weiter und nimmt auch manchmal scharfe Richtungswechsel. Ich bin wohl einer, der sich mit festgefahrenen Verhältnissen nur ungern begnügt und ganz gern mal Hand anlegt, um Dinge zu verändern.
Gab es einen Komponisten ein bestimmtes Werk oder ein Erlebnis, der bzw. das Ihre Leidenschaft für die Alte Musik entfacht hat?
Diese Frage gibt mir tatsächlich zu denken. Für jeden Organisten ist zuallererst Johann Sebastian Bach ein wesentlicher Bezugspunkt. Für mich waren es schon früh auch Aufnahmen von historischen (und historisch gestimmten) Orgeln wie etwa jener der Churburg, die mich klanglich faszinierten und nach diesen Klangidealen streben ließen. Oft verbrachte ich dann ganze Nachmittage an historischen Instrumenten, die zu erreichen per Autostop, Bus oder Fußweg oft gar nicht so einfach war und worunter sicher die sogenannten schulischen Pflichten erheblich litten. Beim Studium in Wien hat es hingegen ein bisschen gedauert, bis mir ein Licht aufging: ich kann mich beispielsweise vage an eine Aufführung von Monteverdis Marienvesper unter Nicolaus Harnoncourt im Wiener Musikverein erinnern, die offenbar spur- und wirkungslos an mir vorbeigegangen war – wer weiß, warum. Dieses Konzert hätte so ein Erlebnis sein können.
Seit vergangenem Jahr haben Sie den Lehrstuhl für Kirchenmusik und Chordirigieren am Konservatorium Claudio Monteverdi in Bozen inne. Wie steht es um den Nachwuchs an Kirchenmusikern in Südtirol?
Südtirol hat eine bemerkenswerte Dichte an Orgeln und Chören im Amateurbereich; ein Nährboden, aus dem immer wieder talentierte NachwuchsmusikerInnen hervorgehen und den Weg in das professionelle Musikgeschäft anstreben. Der Studiengang Kirchenmusik in Bozen ist zwar recht beschaulich, nichtsdestotrotz gelingt es im Kleinen, eine solide und im Vergleich zu großen Hochschulen auch individuell zugeschnittene Ausbildung zu bekommen – insofern wäre es schön, wenn mehr junge Menschen sich für diesen Weg entscheiden würden!
Außerhalb Ihrer Lehrtätigkeit sind Sie auch künstlerischer Leiter des internationalen Festivals „Innsbrucker Hofmusik“, des Festivals „OrgelKunst Vinschgau-Meran“, des international erfolgreichen Ensembles für Alte Musik „La florida Capella“ sowie Chorleiter von „VocalArt Brixen“. Wie kriegen Sie das alles unter einen Hut?
Als freischaffender Musiker ist man darin geübt, mit unregelmäßigen Situationen klarzukommen, etwa ständig herumzureisen und verschiedenste Projekte in dichter Folge zu verwirklichen. Dieses Leben zwischen lokaler und internationaler Aktivität ist schon manchmal eine logistische Herausforderung, was aber durch unvergleichliche Momente auf der Bühne vergolten wird.
Wie ist denn die Szene der Alten Musik institutionell aufgestellt? Gibt es da feste Orchesterstellen oder sind die Musiker:innen mehrheitlich freischaffend unterwegs?
Die Player sind die großen Festivals, Opernhäuser, Ensembles und Agenturen. Die Szene ist aber stark von kleineren kreativen Initiativen geprägt und kleiner strukturiert als die „klassische“ Musikszene, die sich mehr über die angestammten Hierarchien von Orchestern definiert.
Musik vergangener Jahrhunderte für heutige Hörer lebendig werden zu lassen – ist das Ihr Ziel?
Vielleicht ist das Ziel jeder Kunst, etwas Neues, noch nicht Gehörtes an die Menschen zu bringen und damit zum Nachdenken anzuregen oder Emotionen zu provozieren. Dieses Neue ist in meinem Fall eben das Nachspüren nach längst verklungener Musik, die uns im Moment der Aufführung wieder so berühren kann, als wäre sie nie weg gewesen.
Ist historische Richtigkeit das zentrale Kriterium für Sie?
Richtig ist ein dehnbarer Begriff. Man kann sich durch vielerlei Faktoren an die Denk- und Arbeitsumstände von damals annähern, was absolut gewinnbringend ist. Innerhalb vermeintlich strenger Regeln – sobald sie erst einmal erlernt sind – sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Letztlich muss man aber Musik immer wieder neu „machen“ und interpretieren, interpretieren, interpretieren!
Alte Musik ist sehr häufig in einem religiös-liturgischen Rahmen entstanden und auch nur in diesem Kontext zu verstehen. Braucht es ein Gefühl für Transzendenz und das Vertikale (Göttliche), um sie zu interpretieren?
Bei aller Planung und handwerklichen Fertigkeit in der Musik braucht es im kreativen Prozess schon ein Bewusstsein für das Unsichtbare. Konzerte sind ja im Grunde immer eine Art Ritual oder Zeremonie und Musik macht gewissermaßen etwas hörbar, das wir weder anfassen, noch in Worte fassen können. Es liegt also in der Hand des Interpreten, die ZuhörerInnen anzuregen, für eine kurze Zeit gemeinsam das allzu Irdische hinter sich zu lassen. Nach gelungenen Konzerten erntet man vom Publikum oft ganz beseelte und inspirierte Blicke. Dann weiß man, dass es funktioniert hat.
Neben Ihrer Konzerttätigkeit graben Sie gern nach verschollenen, unerhörten Werken unter anderem im Marienberger Musikarchiv. Sind Forschergeist und Entdeckungslust quasi Voraussetzung, wenn man sich mit „Alter Musik“ befasst?
Die Antwort ist einfach: Ja. Es gibt noch vieles zu entdecken, und gerade aus der Zeit vor der Klassik noch umso mehr. Die Fülle an noch nicht gehobenen Musikschätzen ist immer wieder beeindruckend und Anlass für Ideen für mich und viele gleichgesinnte Kollegen. In meiner Konzertreihe in Innsbruck ist schätzungsweise mehr als die Hälfte der Musik eine „Erstaufführung in neuerer Zeit“ – wir schreiben das meist schon gar nicht mehr auf das Programm…(lacht). In den Proben gibt es tatsächlich manchmal diese Aha-Momente, wenn dem Ensemble bewusst wird, soeben mal Klänge erzeugt zu haben, die seit Jahrhunderten nicht mehr gehört wurden.
Wie kann man sich die Suche nach unbekannten Komponisten und Werken konkret vorstellen? Sitzen Sie tagelang in verstaubten Bibliotheken und blättern Notenhefte durch?
Tatsächlich sehe ich Archive eher selten von innen: die Arbeit läuft großteils über die digitalen Kataloge; viele Partituren liegen bereits als Digitalisate vor oder können problemlos online bestellt werden. Die Wiederbelebung der Alten Musik ist wirklich zu einem Gutteil der Digitalisierung geschuldet! Umso spannender ist es, wenn man im Einzelfall wirklich selbst ein verstaubtes Notenblatt in die Hände bekommt und so mit den längst vergessenen Kollegen auf Tuchfühlung gehen kann.
In den Archiven schlummert wahrscheinlich auch sehr vieles, was zu Recht vergessen ist. Wie muss eine Komposition beschaffen sein, um Ihr Interesse zu wecken?
Auf solche Musik bin ich bisher eigentlich noch nie gestoßen! Man kann auch aus mittelmäßigem Material meistens was Interessantes herausholen. Das meiste gedruckte ist sehr gut, aber daraus stechen eben gewisse Komponisten doch immer wieder heraus: formale Klarheit, rhetorische Eindringlichkeit und schlicht ungetrübte musikalische Schönheit zeichnen Großmeister wie Monteverdi, Frescobaldi, Scarlatti oder Bach aus. Mittelmäßige Musik ist manchmal eine etwas härtere Nuss. Aber richtig gute Musik bringt es auch auf den Punkt, wenn der Interpret sie gar nicht versteht.
Es gebe unendlich viel zu entdecken neben den üblichen Verdächtigen Bach, Händel, Vivaldi und den anderen Großen, heißt es. Die Frage ist, ob die Leute es auch hören wollen. Wie offen ist das Publikum für Neuentdeckungen?
Vieles wurde und wird vielleicht auch etwas zu sehr als Sensation aufgebauscht. Ich bekomme eigentlich ziemlich selten Rückmeldungen, was diesen Aspekt betrifft. Wenn die Musik erst einmal da ist, wird sie meist wie jede andere besprochen oder kritisiert. Die geübten Hörer von Alter Musik sind es quasi gewohnt, ständig neue Stücke zu hören – das ist sicher anders als etwa bei klassischen Symphoniekonzerten oder Opern. Die Renaissance bildete durch die Rückbesinnung auf antike Ideale ein neues, humanes Weltbild heraus und der Barock setzte dem nochmal die Krönung auf. Dieser Gedanke spricht wohl auch viele Menschen heute an.
Das führt zu der Frage, ob Unbekanntheit ein Wert an sich ist. Ist es?
Unbekanntheit eher nicht, aber neu entdeckte Qualitäten sind es allemal. Ein gewisses Interesse an vermeintlicher Kleinmeisterei und Durchlüften der Notenschränke tut unserer Zeit gut.
Unter dem Begriff „Alte Musik“ liest man bei Wikipedia, damit seien die verschiedenen Musikstile des frühen Mittelalters bis etwa ins Jahr 1750 erfasst. Genügt das als Definition oder ist nicht vor allem auch die historische Aufführungspraxis damit gemeint?
Sehr gute Frage! Auch wenn die Alte Musik per Definitionem vor der Wiener Klassik endet, hat sich inzwischen eine informierte und wissenschaftlich gestützte Herangehensweise auch zu Romantik oder Moderne durchaus etabliert. In der Tat ist dieser Ansatz inzwischen auch auf viele Interpreten romantischer oder moderner Musik übergeschwappt, deren Spiel in unterschiedlichem Maße von diesem Wissen beeinflusst ist. Eine Qualität der jüngeren Zeit ist es beispielsweise, auch romantische Musik wieder so zu spielen, wie sie 1850 geklungen hat (und nicht 1950!). Wenn man so will, ist es im weiteren Sinne also auch Alte Musik, beispielsweise auf einem originalen Flügel von 1870 Brahms zu hören und festzustellen, dass vieles ganz anders klingt, aber eben authentisch ist und dadurch handfeste Tatsachen schafft.
Die historische Aufführungspraxis hat mittlerweile einen festen Platz in der klassischen Musikszene eingenommen. Wie hat sie sich verändert und in welche Richtung geht es?
Ja, hat sie, und das auch bereits in den wenigen Jahren, seit ich sie verfolge. Es geht von radikaler Ablehnung lyrischer Mittel (also fast nachkriegsmäßig seriell und abgespeckt) hin zu einer ausdrucksvollen, natürlich musikalischen Expressivität. Die Kenntnis von historischen Stimmungen, historischen Quellen und Spielpraktiken ist durch die heutigen Mittel einfach wesentlich besser geworden. Verhaltene Sänger ohne Vibrato, schmalbrüstige Geigen, kicksende Trompeten und hauchende Truhenörgelchen gehören so langsam aber sicher der Vergangenheit an – spätestens mit der Pandemie ist das 20. Jahrhundert wohl auch einmal vorbeigegangen (lacht). Ein Kollege sagte kürzlich in Bezug auf das barocke Rom: „caro mio, qui cantavano!“ – das, und nur das muss es sein.
Manche halten die historisch informierte Alte-Musik-Bewegung für die größte Erneuerung der Musik nach dem Zweiten Weltkrieg und für wichtiger als die Experimente der zeitgenössischen Musik. Einverstanden?
Das kann ich gar nicht beurteilen. Provokanterweise stelle ich fest, dass die Neue-Musik-Szene ein größeres Nischendasein als wir fristet. Die Natürlichkeit und Unmittelbarkeit der Alten Musik und der vorindustriellen Instrumente spricht die Menschen sehr an. Das hat mit Alter Musik aber weniger zu tun als mit der traditionell offenen und wissbegierigen Mentalität ihrer Ausführenden; es ist ja nicht verboten, dies auch in anderen Stilen anzustreben!
Es gibt viele junge Ensembles im Feld der Alten Musik. Irgendwie mutet es paradox an, dass viele junge Musiker gerade in der Alten Musik das Neue entdecken. Ist das Alte das Neue?
Neu und aktuell ist das, was in diesem Moment gespielt und gehört wird und gefällt – das sollten wir uns stets vor Augen halten. Musik ist nicht mit konventionellen Mitteln einzuordnen: im Moment scheint sie zu flüchtig zu sein, aber alt wird sie nie. Eine Partitur ist ja noch nicht das fertige Kunstwerk, sondern gewissermaßen nur das Rezept dazu, und das kann jederzeit nachgekocht werden.
Mit dem Ensemble „La florida Capella“ werden Sie beim Festival Musica Sacra Claudio Monteverdis „Marienvesper“ (9. Mai um 20.00 Uhr in der Pfarrkirche Schlanders und am 10. Mai um 20.00 Uhr im Bozner Dom) aufführen. Ein Werk, das seit der Wiederentdeckung durch Pioniere der historischen Aufführungspraxis in den 1960er Jahren fasziniert. Was ist das Besondere an dem Werk?
Die Marienvesper ist eines der größten Meisterwerke der abendländischen Musikgeschichte, im Rang von Kunstwerken wie etwa der Pietà von Michelangelo. Claudio erwies sich als Meister verschiedenster Kompositionstechniken und beschritt aber auch ganz neue, eigene Wege. Das monumentale Magnificat oder die Motette „Audi coelum“ spielen mit dem Raumklang sowie Echo-Effekten und vertonen gewissermaßen die unendliche Weite des Himmels. Auch nichtreligiöse Menschen vermag diese Klang gewordene Transzendenz in den Bann zu ziehen. Durch das Nebeneinander verschiedener stilistischer Schichten sowie dem Einbezug des ganzen Kirchenraumes als großes Musikinstrument entsteht ein zeitloses Gesamtkunstwerk.
Interview: Heinrich Schwazer
Zur Person
Marian Polin, Jahrgang 1990, wuchs in Mals auf, erhielt dort seinen ersten Orgelunterricht und sammelte bereits in früher Jugend erste Erfahrungen als Chorleiter und Organist. An der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien studierte er Kirchenmusik und Orgel. Seit 2023 hat er den Lehrstuhl für Kirchenmusik und Chordirigieren am Konservatorium Claudio Monteverdi in Bozen inne. Seit 2022 ist er künstlerischer Leiter der von ihm mitbegründeten internationalen Konzertreihe für Alte Musik „Innsbrucker Hofmusik“ in der Hofkirche Innsbruck. www.marianpolin.com
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