Sternstunde Südtiroler Chorpraxis
Der Südtiroler Kammerchor „Alla Breve“ unter der Leitung der ukrainischen Dirigentin Nataliya Lukina führte im Brixner Dom ein ökumenisches Friedenskonzert „in tempore belli“ auf.
von Hubert Stuppner
Im 19. Jahrhundert war Brixen, im Verbund mit Regensburg, das Bollwerk musikalischer Orthodoxie, etwa im Streit der katholischen Restaurationsbewegung des „Cäcilianismus“, heute ist es, dank „Musik und Kirche“ und „Festival Geistlicher Musik“, wohl eher ein Ort der musikalischen Ökumene. Vor einem Monat sang der Domchor den „Kreuzgang“ von Liszt, es folgte zwei Wochen darauf die bewegende orthodoxe „Chrysostomos-Liturgie“ von Rachmaninoff und nun ein Sakralkonzert von konfessionell unterschiedlichen Komponisten. Denen entsprechend stellten die drei aufgeführten Werke seltene Zeugnisse individueller christlicher Frömmigkeit dar -, eine katholische Messe, eine jüdische Anrufung und ein urchristlicher lateinischer Psalmen-Hymnus aus der Vulgata. Spirituelles in Gestalt dreier repräsentativer Komponisten des 20. Jahrhunderts: des Schweizers Frank Martin, Sohn eines calvinistischen Pfarrers, des im Judentum verankerten Schönberg, und des agnostischen Weltbürgers Strawinsky.
Frank Martin lässt den Hörer wissen, dass seine Messe etwas „ganz Persönliches zwischen ihm und Gott darstelle“, während Schönberg, einen großen Krieg befürchtend, 1907 den „Frieden auf Erden“ beschwor, und der Weltbürger Strawinsky, seine Heimatlosigkeit reflektierend, 1930 – Sakrales mit Existenziellem verband: „Erhöre mein Gebet, Herr, und mein Bitten. Nimm meine Klagen mit den Ohren wahr. Schweige nicht. Denn ich bin ein Fremdling bei dir und Pilger, wie alle meine Väter…Verschone mich, so dass ich zur Ruhe komme, bevor ich dahinfahre und forthin nicht mehr bin.“
Vom Südtiroler „Alla Breve-Kammerchor unter der Leitung der ukrainischen Dirigentin Nataliya Lukina und zwei einheimischen Pianisten, Andreas Benedikter und Stefan Huber, meisterhaft interpretiert, lagen die Stile weit auseinander. Sie boten ein Bild der Vielfalt und geistigen Verfassung der Seelen im frühen 20. Jahrhunderts.
Frank Martin kommt mit seiner doppelchörigen Messe dem katholischen Kirchengesang am nächsten, da er am konsequentesten gregorianische Anleihen in der katholischen fünfteiligen Messe verarbeitet. Ganz anders der bekennende Jude Arnold Schönberg, der mit seiner Vertonung des Gedichtes des calvinistischen Conrad Ferdinand Meyer (des Dichters der Hugenottischen „Füße im Feuer“), dem zahlreichen Publikum in der leidenschaftlichen Beschwörung des Friedens den Schauer über den Rücken und manch einem eine Träne aus den Augen fließen ließ: „Es ist ein ewiger Glaube, dass der Schwache nicht zum Raube jeder frechen Mordgebärde werde fallen allezeit: Etwas wie Gerechtigkeit webt und wirkt in Mord und Grauen, und ein Reich will sich erbauen, das den Frieden sucht der Erde.“ Ein Werk mit Fingerzeig. Unüberhörbar der Notruf der Ukrainerin aus Karkhiv, Natalia Lukina, der Leiterin des „Alla Breve“-Kammerchores.
Von besonderem Interesse war die italienische Erstaufführung der von Schostakowitsch bearbeiteten Fassung der „Psalmen-Symphonie“ von Strawinsky für vierhändiges Klavier und Chor. Die Schicksale und Lebensbedingungen beider Komponisten konnten nicht unterschiedlicher sein. Strawinsky, dem es früh gelang, die Sowjetunion zu verlassen und im Westen als bedeutendster Vertreter der Moderne Karriere zu machen, und Schostakowitsch, der in der Sowjetunion Stalins allen nur erdenklichen Schikanen ausgesetzt war und der die Finger von Messen und Oratorien zu lassen musste, was in ihm, seinem weltweit erfolgreichen, in der Freiheit lebenden Landsmann aus St. Petersburg /Leningrad gegenüber zeitlebens Minderwertigkeitskomplexe hervorrief.
Der „Kammerchor Alle Breve“, der unter der kompetenten Leitung von Nataliya Lukina drauf und dran ist, ein Südtiroler Profi-Chor zu werden, wurde nach diesem vielseitigen und anspruchsvollen Programm vom Publikum mit lange anhaltendem Applaus bedacht. Die leidenschaftlichen Anrufungen in Frank Martins Messe, insbesondere im „Sanctus“ und „Agnus Dei“, das „sursum corda“ der „mühselig und beladenen“ Seelen in Schönbergs aufwühlendem Friedenslied, und das „Exaudi orationem meam“ in Stravinskis „Psalmensynphonie, waren eine Sternstunde Südtiroler Chorpraxis.
Man brauchte ja nicht kirchengläubig zu sein, um sich abseits vom Kriegslärm in der andächtigen Klangwolke, die der A Capella-Chor im halligen Kirchenraum verströmte, die von Augustinus erträumte friedliche „Civitas Dei“ vorzustellen oder gar die Erscheinung des „Himmlischen Jerusalems“, die Johannes in seiner Offenbarung als „Stadt aus reinem Gold“ besang. Dieser Chor singt souverän das Harte wie das Weiche, das leiseste Moll wie den heftigen Aufschrei, jene archetypischen Extreme, die Messaien als Formen zerknirschter katholischer Dramaturgie mit „l’Abìme et L’Aigu“ bezeichnete: kontrastreiche Musik zur Hölle und über Himmel. Gedanken, die, auf Wunsch der Ukrainerin Lukina, der Ethiker und Theologe Prof. Markus Molig zwischen den drei Werken in besinnlicher Weise zur Sprache brachte.
Das Konzert war zum Weinen schön, gäbe es da nicht den schrecklichen Ivan, der den Ukrainern nicht einmal zu deren Osterfest einen friedlichen Hymnus vergönnt und stattdessen – just zum orthodoxen Fest des Friedens, mit dem Segen seines Patriarchen – in Karkhiv, der Stadt von Nataliya Lukina, in die Menge schießt.
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