Abseits ausgetretener Pfade
Der junge italienische Pianist Giuseppe Albanese interpretierte beim Bozner Konzertverein eher selten gespielte Werke von Leos Janacek, Ferruccio Busoni, Arnold Schönberg und Charles Ives.
Von Hubert Stuppner
Das beliebteste und glänzendste Glasperlenspiel, das die Menschheit je erfunden hat, ist zweifelsfrei das Klavierspiel. Tummelten sich in den Anfängen noch kleine Geläufigkeits-geübte Hände über die Tasten, so sprangen diese mit der Ausdehnung des Spiels von fünf auf sieben Oktaven mit halsbrecherischer Geschwindigkeit immer weiter Tasten hinauf und herunter.
Für diese Entwicklung virtuoser Treffsicherheit und Geschwindigkeit stehen die Namen von Chopin und Liszt. Jeder dieser zwei steigerte die Erweiterung der Griffe weit über die Oktave hinaus. Diese Entwicklung gipfelte mit dem Deutschen Adolf von Henselt, der im Dienst des Zaren in St. Peterburg die adeligen Töchter im Klavierspiel unterwies und ein Klavierkonzert in F-moll komponierte, das für normal geformte Hände unspielbar war, und zwar so sehr, dass Robert Schumann, der es bewunderte, für normale Hände umschrieb. Der wichtigste Schüler von Henselt war Nicolaj Swerew, der Lehrer von Scriabin, Alexander Siloti und Sergei Rachmaninow, die noch einmal, mit großen Händen begabt, die weite Lage im Klavierspiel festgeschrieben.
Abseits von dieser vornehmlich technisch diktierten Entwicklung etablierten sich – sozusagen auf einem Nebengeleise – andere Spielarten, die nicht der Virtuosität dienten, sondern andere expressive Möglichkeiten des Instruments erkundeten. Das Konzert des jungen italienischen Pianisten Giuseppe Albanese, der bereits 2020 als Teilnehmer am Busoni-Wettbewerb aufgefallen war, aber nicht unter den Prämierten aufscheint, was er reichlich mit mehreren Deutsche Grammophon -Einspielungen und einem „Premio Venezia“ wettmachte, war vergangenen Mittwoch im Bozner Konzertverein monographisch diesem Aspekt gewidmet.
Er interpretierte eher selten gespielte Werke von Leos Janacek, Ferruccio Busoni und Charles Ives, die abseits von gängiger Virtuosität originelle pianistische Spielvarianten erfanden: Janacek, der den Tasten Intimes und Bekennerhaftes anvertraute, Schönberg, der einer gedankenlosen Geläufigkeit aus dem Wege ging, Busoni, der mit seiner neuartigen Dur-Moll-Ambivalenz spätromantische Gefühlsduselei austrocknete, und Ives, der als Autodidakt die Sonaten-Form an ihre Grenzen trieb.
Alle vier Komponisten erfanden ihren charakteristischen Klaviersatz kurz vor und während des 1. Weltkrieges, in einer Zeitenwende voller geistiger und stilistischer Brüche. Außerdem waren drei von ihnen Autodidakten und daher für das Unerhörte in der Komposition besonders disponiert. Der aus Mähren stammende Leos Janacek brach sein Akademie-Studium in Berlin nach einer Woche ab und verließ Zeit seines Lebens seine angestammte Heimat nicht mehr. Die 1912 entstandene 4 Sätze-Komposition „Im Nebel“ ist die imaginäre Klavierbegleitung eines „Liedes ohne Worte“. Albanese, der mit viel Rubato spielte, deutete das Werk als sentimentales Rezitativ, wie es Janacek ja auch in seinen Opern als „Sprachmelodie“, nämlich als Übersetzung der Umgangssprache in Melodie praktizierte. Die 1911 von Schönberg komponierten „Sechs kleinen Stücke“: sind ähnliche Soliloquia, knappe expressionistische Epigramme.
Weniger revolutionär klang Ferruccio Busoni mit seinem „Indianischen Tagebuch“ und seinen zwei „Elegien“. Busoni war es nicht vergönnt, seinen „Entwurf einer neuen Ästhetik Tonkunst“ in seinen Kompositionen umzusetzen, denn das virtuose Klavier hing ihm so sehr an den Fersen, dass er weder den Mut noch die Kraft dazu hatte, Unerhörtes zu wagen. Von Berlin nach Moskau, nach Wien, nach Boston, nach Chicago, nach Mailand, ständig auf Tournee, als Pianist, in Sälen, in denen ein sensationsgieriges Publikum auf den Tastenlöwen lauerte, das hemmte sehr seinen revolutionären Einfall.
„Das „Indianische Tagebuch“ – eine Hommage an die Folklore der Indianer Amerikas – muss deshalb eher als anti-zivilisatorischer Protest verstanden werden, als ein erdachter Bruch mit der Tonalität. Es entstand nach einem Konzert in Chicago, der Stadt der Schlachthöfe, die Busoni als Vegetarier verabscheute. Albanese spielte in diesem Werk vor allem den virtuosen Busoni und ließ in den beiden Elegien „All’Italia“ und in „Turandots Frauengemach“ pianistisch die Puppen tanzen.
In diesem schlüssigen und klug konzipierten Programm war Charles Ives, der wohl radikalste Autodidakt in der neueren Musikgeschichte, mit seiner fast einstündigen „Concord-Sonate“ der Hauptteil des Abends. Ein Werk, das man bislang nur in Avantgarde-Konzerten hörte. Nur 10 Jahre jünger als Mahler, konzipierte Ives in einem ganz anderen kulturellen Kontext eine „Multiphonie“, die heterogene akustische Ereignisse mischte und in eine gewagte vieltönige Form presste. Er wurde so zu einem Vorläufer moderner Collagetechnik.
In ähnlicher Weise gilt Ives als bahnbrechender Erfinder der illusionären Perspektive von Klang, sein Stil ist die Klanglandschaft (soundscape), die Ereignisse im Hintergrund eines Konzerts notiert. Die massive „Concordsonate“ hat ihren Namen von einem Ort in Massachusetts, dem Sitz der religiösen Sekte der Transzendentalisten , deren Spiritualität in vier Sätzen -„Emerson“, „Hawthorne“, „The Alcotts“ und „Thoureau“- mit vollgriffigen, wilden Chorsätzen und langen Orgelpunkten polytonal gedeutet wird. Eine Musik ohne erkennbare Metrik, die mit „little faster but firmly“, slightly faster“, „faster and broadly“, gradually faster and broadly” wie eine Monsterwelle im Meer wirkt und allmählich an Energie verliert, bis sie über einem Orgelpunkt auf den Tönen c, a und g, fromm die Glocken läuten lässt.
Albanese brachte das scheinbar Ungezähmte und Formlose durch kultivierten Anschlag zur Räson. Eine Interpretation, die das hymnisch Ausladende in den breiten und weiten Ives’schen Klang-Landschaften ohne Ende dem geduldigen Publikum nahe brachte. Ein mutiges Konzert abseits von ausgetretenen Pfaden des Klavierrepertoires.
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