Engel im Landeanflug
Die Welt ist nicht alles, was der Fall ist, die Welt ist alles, was fällt: Sissa Micheli & Thomas Riess stimmen in der Galerie Alessandro Casciaro eine Ode auf zwei Welten an.
Von Heinrich Schwazer
Es fliegt immer etwas herum auf Sissa Michelis Fotografien. Wie auf barocken Verkündigungsbildern bläst von irgendwoher ein Windhauch, der ein Gewand, ein Satinleintuch, metallisch glänzende Stoffe oder ein Stück Filz durch die Luft weht. Einmal tanzen die Stoffe in erregter Schwebe vor einem Gesicht, ein andermal verhüllen sie einen oder zwei Körper bis auf die Knie oder die Füße. Bevor sie zu Boden fallen, in einem flüchtigen Augenblick, nahezu zeitlos in seiner Kürze, friert die Kamera ihr Fallen in einem Moment ein, den es, zumindest für das menschliche Auge, nicht gibt: in jenem des Stillstands. Die Welt ist, frei nach Wittgenstein, nicht alles , was der Fall ist, sondern alles, was fällt.
Die vehemente Dynamik und Nervosität des Barock herrschen in der inszenierten Fotografie von Sissa Micheli. Unübersehbar weisen ihre dramatisierenden Chiaroscuro-Kontraste, die caravaggiesken Kompositionen, die Vielzahl an Zitaten und Referenzen auf (neo-)barocke Motive und Bildschemata hin und explizit bezieht sie sich auf die Faltenmalerei des Barocks (und Gilles Deleuze´ Buch „Die Falte“). Doch in den Draperien nur Dekoratives, gefällig Oberflächliches oder überladen Verspieltes zu sehen, greift nicht nur zu kurz, es greift daneben. Vielmehr geht es um jene künstlerische Haltung, die der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin in seinem epochalen Werk über die Entstehung des Barockstils in Italien (1888) als grundsätzliche, quasi ontologische Instabilität des Barocks auf den Punkt gebracht hat: „Der Barock gibt nirgends das Fertige und Befriedigte, nicht die Ruhe des Seins, sondern die Unruhe des Werdens, die Spannung eines veränderlichen Zustandes.“
Michelis Unruhe des Werdens beruht, paradox formuliert, zuallererst auf der Stillstellung des Fallens. Die Tücher werden in einem performativen Akt von dem Model selbst oder einer Assistentin geworfen. Bei komplexeren Werken, etwa der Serie „The Infinite Fold“, bedarf es mehrerer Würfe und einer Nachbearbeitung mit Photoshop. Die plastisch weiche, textile Materialität der Stoffe verwandelt sich im Flug in eine „fotografische Skulpur“. Die Stillstellung verändert das Gezeigte, das fotoästhetische Spiel zwischen der fluiden Weichheit der Stoffe und der Statik des fotografischen Augenblicks rückt es näherhin an die Skulptur. Da kann aus einem fliegenden Tuch schon mal die Nike von Samotrake werden, eine Hommage an Renoir, an ägyptische Göttinnen, an die künstlerische Abstraktion oder an Tanz-Choreographien.
Ein frommes Gemüt könnte in den fliegenden Stoffen Engel im Landeanflug sehen, kunsthistorisch Bewanderte eine genuin neobarocke Skulpturwerdung wie Lorenzo Berninis Baumwerden der Nymphe in der Statue Apollo und Daphne, die den nackten, im schnellen Lauf eingefrorenen Gott mit um Hüfte und Schulter wehenden Tuch darstellt, abstraktere Geister können sich vor ihnen auf die Topologie der Faltung und deren metaphysische Implikationen einlassen.
Das Entscheidende ist, dass Michelis Fotoskulpturen nicht nur Gebilde sind, über die man nachdenkt, sondern mit denen gedacht werden kann. Evident, manchmal bis in die äußere Form hinein, sind die Stoffe Metonymien für den menschlichen Körper – nur tanzen eben die Stoffe und nicht die Körper. Schier fetischisierend lugen Beine aus den Stofffluten hervor, die Gesichter jedoch sind streng verhüllt. Was die Aufmerksamkeit und Imagination selbstredend genau dorthin lenkt.
In der Löschung der Gesichter besteht die auffallendste Knüpfung zur Malerei von Thomas Riess, mit dem Micheli derzeit in der Galerie Alessandro Casciaro eine Dialogausstellung bestreitet. Der Titel „Ode to two Worlds“ stimmt Leichtigkeit an – Brandgeruch, Feuer, Schwefel, Asche und Tod gibt es schon genug. Doch von eskapistischen Fluchten in Wunsch- und Behaglichkeitswelten kann keine Rede sein. Auf einem Video, das in eine textile Faltensäule mitten im Ausstellungsraum eingehaust ist, sieht man Micheli und Riess als Künstlerpaar im Nebel von Rauchkerzen auftauchen und verschwinden. Dazu tönt, unhörbar für das menschliche Ohr, die sogenannte Schumann-Frequenz – jenes Schwingungsmuster von 7,83 Hertz, das man auch den Herzschlag der Erde nennt. Es braucht nicht viel Deutungskraft, um das zu verstehen: Was da aufsteigt, sind Rauchzeichen aus der brennenden Erde.
Du sollst dir kein Bildnis machen, das gilt auch für Thomas Riess – nur eben im Medium der Malerei. Charakteristisch für die Ölbilder des in Zams, Tirol, geborenen Künstlers sind die übergangslosen Wechsel zwischen fotorealistisch gemalten Passagen und mit Verve aufgetragenen, fast gewalttätigen Farbwischern, die ganze Körperteile, vor allem aber die Gesichter unkenntlich machen.
Evident angetrieben von der grassierenden Ich-Performance auf Instagram, Facebook und Co malt Riess Gesichter, die digital optimiert und chirurgisch paralysiert, die tägliche mimetische Rivalität im Internet auszutragen haben. Im gleichen Atemzug jedoch attackiert er die Gesichter als unverwechselbare Zeichenträger des Selbst mit vehementen Pinselangriffen, übermalt und verwischt impulsiv, wenn nicht ekstatisch, was einen als Individuum identifizierbar macht. Von den Klischeevorstellungen, das Gesicht und vor allem die Augen seien der Spiegel der Seele, bleibt nur ein Rest verwischter Erinnerung zurück.
Stattdessen dominiert die Vorstellung vom Porträt als verletzendem Akt wie es Francis Bacon in seiner Malerei durchexerziert hat. Wie dieser lässt Riess zwei Bildmodi in einem komplexen Spiel aus Figuration und Abstraktion aufeinanderkrachen – Authentizität und der gebrochene Glaube daran auf einem Bild.
Sissa Micheli widmet Bacon sogar eine Hommage. „The Metaphysics of Folds II“ zeigt ein dreibeiniges Tischchen, über dem ein metallisch glänzendes Tuch schwebt, unter der eine Hand hervorlugt. Eine Hommage und ein Porträt. Hat Bacon in seinen Gesprächen mit David Sylvester nicht gesagt, er träume davon, einfach einen Farbklumpen auf die Leinwand zu schleudern und das Porträt stünde da.
Michelis und Riess´ Bilder ohne Selbst bilden das Selbst der Gegenwart ab. Schön. Und hochpolitisch.
Termin: Die Ausstellung Sissa Micheli & Thomas Riess: Ode to two Worlds in der Galerie Alessandro Casciaro bleibt bis 6. April zugänglich.
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