Sind Bunker ein Kulturerbe?
Der Architekt Heimo Prünster hat in jahrelanger Forschung die Geschichte der Südtiroler Bunkeranlagen, den sogenannten „Vallo Alpino“ aus der Zeit des Faschismus, dokumentiert. Was fasziniert ihn an dem Monumentalbauwerk und war es eine gute Idee, die Bunker zu verkaufen
Tageszeitung: Herr Prünster, Sie sind kein Historiker, sondern Architekt. Was ist für einen Architekten so faszinierend an den Südtiroler Bunkeranlagen, dass Sie sich seit mehr als 10 Jahren damit herumschlagen?
Heimo Prünster: Was mich als Architekten vorrangig interessiert, ist der planerische Aspekt an einem Monumentalbauwerk, das hier fast überall unbemerkt vor, hinter und unter uns liegt. Faszinierend ist der enorme landschaftliche Bezug seiner Anlagen. Sie wurden als industrielle Massenware in kürzester Zeit in eine organisch gewachsene Kulturlandschaft eingebaut, sie machen sich die Landschaft zu eigen und verwenden sie als ihr Werkzeug. Über die Jahrzehnte sind diese Fremdkörper aber selbst zur Landschaft geworden oder konstituieren sie sogar und bilden einen Bestandteil der spezifischen, lokalen Identität. Es war eine beachtliche Leistung, hunderttausende Kubikmeter Beton in die Landschaft einzupassen, als hätte sie nie anders ausgesehen. Sie stehen ganz stark im Widerspruch zum mantrahaft beschworenen Südtiroler Idyll, sie bilden Risse und Störfaktoren in diesem scheinbar fehlerlosen System, eine dissonante Resonanz. Es gibt zudem kaum vergleichbare Bauten, die als System und Netzwerk funktionieren und sehr großflächig auf ein Territorium einwirken können. Die Wirkungsradien der Waffen sind unsichtbar, sieht man sich aber die sog. „piani di fuoco“ und andere Pläne an, so erkennt man die zentimetergenaue Planung, die in drei Dimensionen angelegt ist und optisch stark heutigen Landschaftsplänen ähneln. Im Grunde funktioniert ein Bunker wie ein Bauernhof: er bedient ein ihm zugeschriebenes Feld.
Fragt man Sie manchmal, was das überhaupt soll, was Sie mit Ihren Forschungen zu diesem vom Faschismus belasteten Erbe der Südtiroler Geschichte bezwecken?
Da muss ich grinsen. Ja, das Wissen und Bewusstsein gegenüber dem Vallo Alpino waren vor ca. 10-15 Jahren noch ganz anders, oft auch von institutioneller Seite. Damals war mein „Institute of Applied Bunkerology“ nötig, um eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit dem Thema zu ermöglichen, sonst war eine tiefergehende Auseinandersetzung noch nicht machbar. Das Thema ist vom extremen gesellschaftlichen Rand nun wesentlich weiter in die Mitte gerutscht, sodass fachliche Fragen an die Stelle der allgemeinen Infragestellung getreten sind.
Bereits in Ihrer Diplomarbeit haben Sie die als „Vallo Alpino del Littorio“ /(VAL) („faschistischer Alpenwall“) bezeichneten Südtiroler Bunkeranlagen erstmals systematisch erfasst. Sind jetzt alle Aktenbestände gesichtet und ausgewertet?
Bei einem Monumentalbauwerk wie diesem wird das wohl niemals der Fall sein. Auch deshalb, weil durch die Kriegswirren die Aktenbestände des Vallo Alpino zur sog. Nordgrenze, dem Grenzabschnitt zum Deutschen Reich vom Reschenpass bis nach Tarvisio, zersplittert und in alle Welt verstreut wurden. Man kann nicht einmal sagen, was es ursprünglich alles an Akten gegeben hat und wo diese überall liegen.
Der Vallo Alpino umfasst Tausende von Bunkern entlang der italienischen Alpengrenze vom Ligurischen Meer bis zur Adria. Es scheint, dass die Faschisten aus Italien eine richtige Festung
machen wollten.
Mir scheint, die Vision der Verteidigung war weniger von militärischen Überlegungen gesteuert, sondern mehr von unsteten und megalomanischen Vorstellungen des Faschismus getrieben, die in Teilen ähnlich nah am Fantasiereich lagen, wie die berüchtigte Alpenfestung der Nazis.
Besonders groß war die Angst vor einem wiedererstarkten Deutschland, dem sogenannten „risveglio tedesco“. Nicht umsonst nannte man die Bunker im Volksmund „linea non mi fido“.
Hitler-Deutschland nicht zu trauen war ja nicht so abwegig, im Gegenteil. Sich aber gleichzeitig mit ihm zu verbünden, macht das Thema skurril, spannend und auch für eine breite Interessentenschaft attraktiv. Dieses absurde Verhältnis zwischen Italien und Deutschland stellt einen europäischen Einzelfall dar, der an Originalität schwer zu überbieten ist. Zur selben Zeit, als sich Mussolini mit Hitler verbündet, befiehlt er, die größtmögliche Anstrengung zu unternehmen, um sich vor ihm zu verteidigen. Ein starkes Stück.
Die Bunker sind eines der absurdesten Großbauwerke überhaupt, da sie schon während der Planung militärisch nicht mehr auf der Höhe waren. War man sich dessen nicht bewusst?
Vermutlich saßen die traumatischen Kämpfe des ersten Weltkriegs noch so tief in den Knochen der planenden Generäle, dass sie immer noch glaubten, sich vor Heerscharen fußläufiger Soldaten schützen zu müssen, die mit Bajonetten auf sie losstürzen. Anders kann ich mir nicht erklären, warum das Maschinengewehr das Rückgrat der Abwehr des Vallo Alpino bildete. Wie dachte man denn, mit so einer Waffe einen Panzer aufzuhalten? Als man diese Schwäche bemerkte, war alles schon gebaut, ein ziemliches Desaster.
Der Bunkerbau war die erste Südtiroler Großbaustelle, vergleichbar nur mit dem Bau der Autobahn. Können Sie ein paar Zahlen dazu nennen.
Die Zahlen sind schwer fassbar, weil wenig Bauliches existiert, das sich mit dem Vallo Alpino vergleichen lässt. Durch den Ukraine Krieg ist die Größenordnung der staatlichen Militärbudgets in unser Bewusstsein gekommen, die nun in Europa bei zwei Prozent liegen soll. Im Jahr 1940 verschlang der Bau des Vallo Alpino allein 1,59 % des italienischen BIP. Für die Brennerautobahn vom Brenner bis Salurn wurde fast exakt dieselbe Menge an Beton vergossenen, wie für den Vallo Alpino in Südtirol, das sind rund 1,7 Millionen Kubikmeter.
Nach welchen Kriterien wurden die Bauten des Vallo Alpino errichtet?
Das Heer baute nach den sog. Circolari, Heeres Rundschreiben, die alle Einzelheiten definierten. Interessant ist dabei, dass es nur Vorschriften für die einzelnen Bauteile gab, wie beispielsweise Schießscharten, Gänge, Mannschaftsräume usw. auszusehen hatten, aber nicht das gesamte Bauwerk. Je nach spezifischer Lage im Gelände und Aufgabe des Bunkers, wurden die EInzelteile dann jeweils unterschiedlich zusammengefügt. Wir haben also in Südtirol keine zwei baugleichen Bunker. Beim Atlantikwall ist das ganz anders, dort gab es einen Katalog von Regelbauten, die dann vielleicht noch minimal an den Einsatzort angepasst wurden. Eine ganz andere Herangehensweise. Deutsche Bunker waren spartanischer, ein Infanteriebunker bestand aus einem Mannschaftsraum und den Kampfständen. Das italienische Gegenstück war geradezu barock dagegen. Es hatte ein Küche, eine Krankenstube, eigene Räume für Offiziere und Unteroffiziere, Wachräume, Kartenraum, Kommunikationsräume für Radio, Telefon und Lichtsprechgeräte, Friseur und Fernsehzimmer, …. nein, die letzten beiden waren ein Scherz.
Nicht alle geplanten Bunker wurden auch gebaut. Warum?
Fantasiegebilde lassen sich eben nur auf dem Papier abbilden. Allein für Südtirol waren an die 1000 Bunker vorgesehen, das war einfach nicht machbar – weder von den finanziellen Mitteln, noch den Rohstoffen oder der Arbeitskraft her, Italien war ja ab Juni 1940 im Krieg. Die realisierte Anzahl von 441 Einzelwerken, also Bunkern, ist aber auch so schon beeindruckend, auch wenn 135 davon unfertig geblieben sind. Der Vallo Alpino ist mit Menschenhand errichtet worden und die außerordentliche Leistung der tausenden Arbeiter ist anzuerkennen, auch wenn sie letztendlich vollkommen unnötig war und der Betonwall nicht einen einzigen Tag Dienst geleistet hat.
Mit welchen technischen Mitteln wurden die Arbeiten durchgeführt und wie wurden die gewaltigen logistischen Herausforderungen beim Materialtransport bewerkstelligt? Wer waren die Bauarbeiter und wie wurden sie entlohnt, verpflegt, untergebracht und welche Auswirkungen hatte ihre Anwesenheit auf die lokale Bevölkerung? Waren auf den Baustellen auch Zwangsarbeiter wie im verbündeten Hitler-Deutschland beschäftigt?
Die Produktion war industriell, das kannte das damalige Südtirol noch nicht. Man verwendete neben der zehntausendfachen Manneskraft diverse maschinelle Hilfsmittel wie Steinbrecher, Kompressoren, Pressluftbohrer, Betonmischmaschinen, Feldbahnen für den Materialtransport, Pumpenanlagen zur Beförderung von Wasser, errichtete eigene Stromleitungen, unzählige Materialseilbahnen und -rutschen zum Verteilen von Material, und neben Lastkraftwagen waren auch Fuhrwerke im Einsatz. Die Bauarbeiter waren nachweislich keine Zwangsarbeiter, sondern von den italienischen Baufirmen an Ihren Herkunftsorten requirierte Leute. Sie wurden ordnungsgemäß bezahlt und versorgt, auch wenn es ein sehr belastender Arbeitsalltag war. Die Bauarbeiten mussten im Eilverfahren durchgeführt werden und so war Schichtarbeit notwendig, die sogar durch die Nacht ging.
An Südtirols Bunkern klebt also kein Blut wie beispielsweise am Atlantikwall, wo mehr Menschen beim Bau starben, als bei den Kämpfen. Die Aufarbeitung ist dadurch in dieser Hinsicht nicht schmerzlich, das ist ein Glücksfall.
Dennoch ist die Auseinandersetzung mit dem Thema für viele aus der älteren Generationen oft belastend.
Die Entstehungszeit der Bunker überschneidet sich mit der Option und die negativen Emotionen gegenüber dem faschistischen Unrechtsstaat werden öfters über die Bunker ventiliert, Stichwort „Faschistentempel“. Ich verstehe die Emotionen, erkenne aber oft einen Fehlleitung in dieser Assoziation. Ich finde es enorm wichtig, hier zu differenzieren. Auch wenn der geplante Verteidigungsapparat von politischen Wahnvorstellungen getrieben war – ein Bunker verfolgte nicht einen politischen Zweck, sondern einen militärischen. Er war dazu da, ein Staatsterritorium zu verteidigen, und nicht etwa, ansässige Südtiroler zu schikanieren. Was mich in diesem Zusammenhang oft stört, ist, wenn Vertreter meiner Generation dieselben Emotionen bedienen, wie jene vor ihnen, obwohl sie gar keine Unterdrückung erfahren haben. Für ein Ressentiment einer Person, die unter dem Faschismus gelitten hat, habe ich Verständnis. Wenn eine Person zwei Generationen später dieselben Ressentiments bedient, dann geringschätzt sie dabei das Leid der eigenen Vorfahren. Heute sind die Fragen und die Probleme andere, und die gilt es zu lösen. Sonst war das Leid unserer Vorfahren umsonst.
Für die Bunkerbauten mussten zahlreiche Enteignungen vorgenommen werden. Verlief das immer glatt, hatten die Grundeigentümer keine Möglichkeit, sich zu wehren?
Bei der Forschungsfrage zum Thema der Enteignungen haben wir einen Aktenbestand vorgefunden, der den Rahmen des Projekts gesprengt hätte. Von der Beantwortung mussten wir in diesem Fall leider absehen. Generell gilt aber: Bei Enteignungen, die dem Schutz der staatlichen Integrität dienen, zieht der Bürger immer den Kürzeren.
Ihr Forschungsprojet zu den Bunkern ist mit dem Tagungsband „Vallo Alpino. Die Zukunft? Die Zukunft!“ und der Datenvisualisierung in einer frei zugänglichen Online-Karte abgeschlossen: Gibt es noch Desiderate?
Mehr als Wunsch betrachte ich es als eine Aufgabe, den Vorsprung auszubauen, den dieses Forschungsprojekt geschaffen hat. Ansonsten verpuffen die bisherigen Anstrengungen und sowohl dieses Vorreiterprojekt als auch die Stellung des Landesmuseums verlieren an Bedeutung. Unsere Datenvisualisierung wird im digitalen Zeitalter nicht lange einzigartig bleiben, da gilt es, keine Zeit zu verspielen und dranzubleiben. Gleichzeitig bin ich neugierig, was sich jetzt andere Forschende ausdenken und wie die weitere Entwicklung dieses Kulturerbes aussieht. Umfassendere Projekte der Inwertsetzung von Bunkern, auch touristischer Natur, gibt es bei uns ja noch kaum, da ist noch viel Luft nach oben. Es verwundert mich immer wieder, dass der Tourismus in Südtirol diese schlummernde Ressource noch immer nicht nutzt.
Sie haben auch Videos mit Zeitzeugen aufgenommen. Wie nützlich waren diese in Ihrer Recherche?
Die älteren Generationen der Zeitzeugen waren wichtig, um das Wissen zu bestätigen, das aus der Analyse der Aktenbestände gewonnen wurde. Die Arbeit bekam dadurch eine menschlichere Note, das war eine schöne Erfahrung. Die Befragungen haben sich im Projektverlauf gewandelt und später auch jüngere Generationen umfasst, weil sich herauskristallisierte, dass die Rezeption des Vallo Alpino in unterschiedlichen Generationen verschieden war. Da sind wir wieder beim Thema der emotionalen Bindung, die bei älteren stärker vorhanden ist. Jüngere Generationen hingegen haben einen unbelasteten Zugang zu den Bunkern und können ihnen mit Unbefangenheit begegnen und sie als Entfaltungsräume für sich entdecken. Solche Räume waren und sind für die jüngeren Generationen ja immer noch rar.
Die Festung Franzensfeste hält die Südtiroler Bunkergeschichte mit der Dauerausstellung „Eingebunkert“ in Erinnerung. Sind die Bunker ein Kulturerbe wie beispielsweise ein Schloss?
Vor 30 Jahren hätte man diese Frage noch ganz anders beantwortet, die Rezeption von Kulturerbe ist einem stetigen Wandel unterworfen. Natürlich sind sie ein Kulturerbe, nur gibt es einfach große Unterschiede zu Burgen und Schlössern. Das eine ist über Jahrhunderte gewachsen, diente multiplen Zwecken wie dem Herrschen und Repräsentieren, dem Wohnen, dem Lagern und Verteidigen und spielte in der Gesellschaft eine wichtige Rolle. Das andere entstand in wenigen Monaten mit industriellen Methoden, sollte unsichtbar sein, war für einen einzigen, ganz spezifischen und rein militärischen Zweck entwickelt – die Liste könnte jetzt lange weitergehen. Es ist für jede und jeden interessant, sich persönlich die Frage nach dem kulturellen Wert zu stellen. Genau das war eine Frage, die ich im Rahmen des Forschungsprojekts den Zeitzeugen gestellt habe. Daraus konnte ich die Unterschiede in den Generationen lesen.
Das Land Südtirol hat die Bunker bis auf 20 Objekte an Private verkauft. War das eine gute Idee?
Dass man als Landesverwaltung nicht 441 Anlagen behalten kann, ist klar. Die Frage war eher, welche man behält und wie man zu dieser Auswahl gelangt. Ohne Wissensgrundlage kann man bekanntlich keine richtige Entscheidung treffen und die Wissensgrundlage entsteht erst jetzt durch die Forschung. Insofern ist die Antwort ein klares Nein.
Interview: Heinrich Schwazer
Zur Person
Heimo Prünster, geboren 1976, aufgewachsen in Girlan, Architekturdiplom 2006. Lebt und arbeitet seit 2010 als freier Architekt in Wien und Bozen. Seine Forschungsergebnisse hat er in der Festung Franzensfeste präsentiert. Die umfangreiche Datenvisualisierung des „Vallo Alpino“ ist unter valloalpino.infofrei zugänglich
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