Du befindest dich hier: Home » Chronik » „Wettlauf gegen die Zeit”

„Wettlauf gegen die Zeit”

Ein tragisches Unglück bei einer als nicht schwierig eingestuften Tour: Wie kam es zum Lawinenabgang am Glaitner Hochjoch? Philipp Braunhofer, der Rettungsstellenleiter der Bergrettung Ridnaun-Ratschings, über einen fatalen Fehler und die schwierige Bergung der Verschütteten.

von Erna Egger

Wie konnte dieses Unglück passieren? Eine Frage, die sich nach dem Lawinenabgang in Innerratschings am Mittwoch viele stellen.

Eine 4-köpfige Urlaubergruppe aus Deutschland war zu einer Skitour zum Glaitner Hochjoch (2.389 Meter) aufgebrochen. Rund 1.000 Höhenmeter waren zu bewältigen. Die drei Männer und eine Frau starteten ihre Tour vom kleinen Parkplatz, auf der letzten Anhöhe der Fahrstraße nach Flading (1.520 Meter) in Innerratschings. Während ein Skitourengeher die Tour vorzeitig abbrach und bei der Inneren Wumblsalm auf die Rückkehr seiner drei Freunde warten wollte, setzten die anderen drei ihre Tour Richtung Gipfel fort.

Noch im Aufstieg kam es zum Unglück: Auf rund 2.100 Metern brach eine Lawine in Größe von 150 Metern Länge und 80 Meter Breite ab und begrub die drei Tourengeher unter sich.

Als seine Freunde nicht zurückkehrten, setzte der auf der Inneren Wumblsalm wartende Tourengeher kurz vor 16.00 Uhr den Notruf ab.

Die Bergrettung Ridnaun-Ratschings unternahm mit dem Aiut Alpin sofort einen Rundflug – die Lawine konnte bald ausfindig gemacht werden.

Die drei Verschütteten konnten bald geortet werden, die Bergung dauerte bis zu einer halben Stunde an. Alle drei Personen wurden vor Ort reanimiert.

Für den Aurel Andreas Maximilian Steinert (Jahrgang 2002) aus München kam jedoch jede Hilfe zu spät: Der Notarzt konnte nur mehr seinen bereits eingetretenen Tod feststellen. Die beiden weiteren Begleiter, eine Frau und ein Mann, wurden mit den Rettungshubschrauber Pelikan 1 und Pelikan 2 in die Intensivstation des Bozner Krankenhauses geflogen.

Der Mann ist inzwischen außer Lebensgefahr, der Zustand der Frau ist stabil.

Der Rettungsstellenleiter Philipp Braunhofer über den außergewöhnlich schwierigen Einsatz und wie es zu diesem Unglück kommen konnte.

TAGESZEITUNG Online: Herr Braunhofer, die jungen Urlauber wollten eine Skitour zum Glaitner Hochjoch, auch Schlotterjoch genannt, auf 2.389 Metern unternehmen

Philipp Braunhofer: Eigentlich entspricht das Glaitner Hochjoch nicht dem Schlotterjoch. Das Glaitner Hochjoch bildet den höchsten Punkt. Das Schlotterjoch liegt eigentlich 500 Meter taleinwärts und bildete den Übergang zum Passeiertal. Aber ja: Wenn die Tourengeher sagen, sie gehen auf das Schlotterjoch, peilen sie in den allermeisten Fällen das Glaitner Hochjoch an.

Wie konnte das Unglück geschehen? Die Tour wird als leicht und sicher eingestuft und wird auch Anfängern empfohlen…

Effektiv wird sie eher als leicht eingestuft: Die Urlauber sind jedoch nach der Alm nicht Grat bzw. Kamm entlang gegangen, sondern haben unterhalb, auf der linken Seite, den Hang gequert.

War dies der fatale Fehler?

Ja. Wieso sie diese Route gewählt haben, weiß man nicht. Es herrschte Lawinenwarnstufe 3. Der Hang hatte eine Neigung von über 30 Grat. Hätten die Tourengeher die übliche Aufstiegsspur gewählt, wären sie sicher gewesen.

Warum sind sie nicht der übliche Aufstiegsspur gefolgt?

Sie mussten die Tour neu spuren.

Neu spuren? Die Tour wird sehr viel begangen…

Das stimmt. Effektiv war es erstaunlich, dass sie an diesem Tag auf dieser Route allein unterwegs waren. Vielleicht lag es am Wetter: Im Tal regnete es.

Die Lawinen brach beim Aufstieg ab?

Ja. Das wissen wir, weil an den Skiern noch die Aufstiegsfelle klebten.

Bergführer sprechen oft vom totsicheren 3er. Will heißen: Die meisten Lawinenunglücke ereignen sich einer bei Lawinenwarnstufe 3…

Die Aussage trifft zu: Die Lawinenwarnstufe 3 ist die hintertückischte Gefahrenstufe, weil mehrere Faktoren zutreffen. Für den Alpenhauptkamm ist eine Warnstufe 3 hoch. Lawinenwarnstufe 1 und 2 herrscht eher selten. Daher werden die meisten Touren bei Lawinenwarnstufe 3 unternommen, und hierbei sind die Verhältnisse oft schwer zu bewerten. Gerade vom Lawinenwarnbericht wird oft das Kleingedruckte nicht gelesen.

Handelte es sich am Mittwoch um einen schwierigen Einsatz?

Ja. Aus der Alarmierung ging nicht eindeutig hervor, dass es sich um einen Lawineneinsatz handelt. Wir starteten und wussten nicht, was auf uns zukommt. Als wir dann die Gewissheit hatten, dass es drei Verschüttete gibt, waren sich alle bewusst: Es handelt sich um einen Wettlauf mit der Zeit. Wir mussten feststellen, dass alle tief unter dem Schnee lagen und die Bergung daher länger dauern kann. Deswegen mussten wir mit dem Schlimmsten rechnen. Dennoch möchte ich hervorheben: Die Zusammenarbeit unter den Rettungsstellen funktionierte sehr gut, was auch auf die regelmäßigen Übungen zurückzuführen ist. 60 Rettungskräfte standen im Einsatz, davon 20 auf dem Lawinenkegel von drei verschiedenen Organisationen.

Wie tief unter dem Schnee lagen die Verschütteten?

Ein Tourengeher, jener, der verstorben ist, lag über drei Meter unter den Schneemassen. Die Frau war rund 2,5 Meter unter dem Schnee und der weitere Mann rund 60 Zentimeter. Bei Letzterem war ein Bein sichtbar.

Eine außergewöhnliche Verschüttungstiefe?

Die Verschüttungstiefe ist vom Gelände abhängig: Bricht eine Lawine vom Gelände ab und sie findet eine Mulde, bildet sich ein Stauraum und das ganze Material setzt sich dort ab – wie auch in diesem Fall. Hat die Lawine eine freie Fließbahn, sind die Schneemassen indes gleichmäßig verteilt und die Verschüttungstiefe ist gering.

Wie lange hielten die Bergungsarbeiten an?

Es war ein großer Kraftakt: Wir haben rund 20 Minuten geschaufelt. Es muss ja ein keilförmiger Korridor geschaufelt werden, damit die Person unterm Schnee nicht verletzt wird. Einige Kubikmeter Schnee mussten weggeschaufelt werden.

Die Hoffnungen, die Verschütteten lebend zu retten, waren gering?

Ja, das muss man offen zugeben. Laut Faustregel muss ein Verschütteter in den ersten 15 Minuten geborgen werden. In dieser Zeit hat die Person eine Überlebenschance von 90 Prozent. Dann jedoch sinkt diese drastisch von Minute zu Minute. Und wir wussten nicht, wann die Lawine abgegangen ist – vielleicht auch schon drei Stunden zuvor. Und zumal die LVS-Geräte tiefe Werte angezeigt haben, wussten wir, dass das Ausschaufeln eher länger dauern würde.

Zwei Personen konnten lebend geborgen werden…

Diese hatten eine Lufthöhle, eine Person etwas weniger, die weitere etwas mehr. Und deren Mund war frei von Schnee. Auch sie waren aber bei der Bergung bewusstlos und mussten reanimiert werden. Beide schweben in Lebensgefahr.

Die Dunkelheit: ein weiteres Problem?

Ja, bei der Totenbergung war es bereits dunkel. Die Tagesrandflüge, welche die Rettungshubschrauber nun machen dürfen, sind für uns eine große Unterstützung.

Wie sieht die heurige Einsatzbilanz Ihrer Bergrettung aus?

Wir verzeichnen in dieser Wintersaison bereits vier Lawineneinsätze, was im Vergleich zu anderen Jahren viel ist. Zum Glück ist bei den anderen drei Einsätzen nichts Schlimmeres passiert.

 

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (1)

Lesen Sie die Netiquette und die Nutzerbedingungen

Kommentar abgeben

Du musst dich EINLOGGEN um einen Kommentar abzugeben.

2024 ® © Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH/Srl Impressum | Privacy Policy | Netiquette & Nutzerbedingungen | AGB | Privacy-Einstellungen

Nach oben scrollen