Du befindest dich hier: Home » News » „Wir haben keine Zeit mehr“  

„Wir haben keine Zeit mehr“  

 

Foto: Carsten Brühl

Forscher schlagen Alarm: Die Pestizid-Ausbreitung im Vinschgau reicht vom Tal bis in die Gipfelregion. Die Landschaftsbelastung müsse dringend reduziert werden.

von Artur Oberhofer

Der Bodenexperte der Uni für Bodenkultur in Wien (BOKU), Johann Zaller, bringt das Ergebnis so auf den Punkt: „Die Konzentrationen, die wir fanden, waren zwar nicht hoch, aber es ist erwiesen, dass Pestizide das Bodenleben schon bei sehr geringen Konzentrationen beeinträchtigen.

Eine aktuelle Studie der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU) und der Wiener BOKU zeigt, dass Pestizide nicht auf der Anbaufläche bleiben, sondern im ganzen Tal bis in Höhenlagen zu finden sind. Sie sind sogar in Schutzgebieten nachweisbar. Die festgestellten Pestizidmischungen der vielen Stoffe könnten sich schädlich auf die Umwelt auswirken. Daher fordern Forscher nun einen nachhaltigen Umgang mit Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmitteln.

Doch der Reihe nach.

Carsten Brühl (Foto: Brühl/Privat)

Lange gingen selbst Fachleute davon aus, dass die synthetischen Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel im Wesentlichen in der Apfelanlage verbleiben, dort also, wo sie aufgebracht wurden und maximal noch im nahen Umfeld zu finden sind.

Mit der modernen Analytik kann man bis zu 100 Pestizide gleichzeitig und auch in geringen Konzentrationen messen. Studien zeigen, dass sich Pestizide deutlich über die landwirtschaftlich genutzte Fläche ausbreiten und etwa Insekten in Naturschutzgebieten belasten oder in der Umgebungsluft fernab der Landwirtschaft zu finden sind.

Im Vinschgau wurde bereits vor einigen Jahren ein Rückgang von Schmetterlingen auf den Bergwiesen beobachtet. Fachleute vermuteten einen Zusammenhang mit dem Einsatz von Pestiziden im Tal, aber es gab bislang kaum Studien zur Frage, wie weit aktuelle Pestizide tatsächlich transportiert werden und wie lange sie in Boden und Pflanzen verbleiben.

Dies war der Anlass für den RPTU-Forscher Carsten Brühl und seinen Kollegen Johann Zaller von der BOKU, im Vinschgau die Verteilung von Pestiziden in der Umwelt zu untersuchen.

Für ihre Studie haben die Forscher insgesamt elf sogenannte Höhentransekte entlang der gesamten Talachse untersucht, Strecken, die sich vom Talboden von 500 Meter Seehöhe bis auf die Berggipfel mit 2.300 Meter erstrecken. Entlang dieser Höhentransekte entnahm das Team auf Höhenstufen alle 300 Meter Untersuchungsmaterial. An insgesamt 53 Standorten wurden Pflanzenmaterial gesammelt und Bodenproben gezogen.

Das Ergebnis ist ernüchternd.

„Wir fanden die Mittel in entlegenen Bergtälern, auf den Gipfeln und in Nationalparks. Dort haben sie nichts verloren“, erklärt Carsten Brühl. Die Stoffe würden sich aufgrund der teilweise starken Talwinde und der Thermik im Vinschgau weiter verbreiten als man aufgrund ihrer chemischen und physikalischen Eigenschaften annehmen könnte. Nur an einer einzigen Stelle haben die Forscher in den Pflanzen keine Wirkstoffe gefunden – interessanterweise gibt es an jener Stelle auch sehr viele Schmetterlinge.

Insgesamt 27 verschiedene Pestizide fanden die Forscher in der Umwelt, betonen aber zugleich, dass sie ihre Messungen Anfang Mai durchgeführt haben und dass im Verlauf der Wachstumssaison bis zur Ernte weitere Mittel zum Einsatz kommen. Durchschnittlich fast 40 Anwendungen von Pestiziden während der Saison sind üblich. Damit seien komplexere Mischungen mit mehreren Substanzen und immer wieder auftretende höhere Konzentrationen wahrscheinlich.

Johann Zaller (Foto: Privat)

In fast der Hälfte aller Boden- und Pflanzenproben konnten die Forscher das Insektizid Methoxyfenozid messen, das in Deutschland seit 2016 aufgrund der Umweltschädlichkeit nicht mehr zugelassen ist. Wie sich chronische Belastungen durch Pestizide mit Mischungen in niedrigen Konzentrationen auf die Umwelt auswirken, ist bisher kaum bekannt; auch weiß man bislang wenig über ein mögliches Zusammenwirken verschiedener Substanzen.

Außerdem fand das Team immer einen Cocktail aus verschiedenen Pestiziden, deren Wirkungen sich möglicherweise verstärken. „Die Ergebnisse zeigen auch, dass die Technik der Pestizidausbringung im Apfelanbau stark verbesserungswürdig ist, sonst würden nicht so viele Pestizide abseits der Apfelanlagen gefunden werden“, ist Zaller überzeugt.

„Wir wissen aus früheren Studien, dass Kinderspielplätze in der Nähe der Apfelanlagen mit Pestiziden belastet sind, oft sogar übers ganze Jahr hindurch“, so Mit-Autor und Pestizid-Kritiker Koen Hertoge, der im Vinschgau lebt. „Die aktuellen Ergebnisse zeigen eine neue Dimension des Problems, weil auch weit entlegene Gebiete mit Pestiziden belastet sind“, findet Hertoge. Maßnahmen zum Schutz der Natur und der Gesundheit der Bevölkerung seien unbedingt notwendig. Der neue Landesrat Luis Walcher sei gefordert.

Mögliche Maßnahmen wären laut den beiden Forschern eine Reduktion oder gar ein Verbot des Pestizideinsatzes, zumindest der in entlegenen Gebieten nachgewiesenen Stoffe, schlussfolgern die Forscher.

Die Verantwortung für die Verringerung des Pestizideinsatzes liege nicht nur bei den Apfelbauern, sondern auch bei den großen Supermarktketten, so die Forscher: Diese könnten eine Akzeptanz von nicht ganz so perfekt aussehenden Äpfeln fördern, was durchaus realistisch sei.

Aus der beobachteten Verbreitung in der gesamten Landschaft schließt Carsten Brühl: „Wir brauchen Regionen, in denen Pflanzen und Tiere nicht mit diesen bioaktiven Substanzen kontaminiert sind. Eine Pestizidreduktion – auch mit großen Gebieten ohne den Einsatz von synthetischen Pestiziden – und gleichzeitige Ausweitung des biologischen Anbaus ist zur Reduktion der Landschaftsbelastung dringend notwendig. Unsere Ergebnisse zeigen, dass es drängt, jetzt zu handeln, wir haben leider keine Zeit mehr.

 

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (42)

Lesen Sie die Netiquette und die Nutzerbedingungen

Du musst dich EINLOGGEN um die Kommentare zu lesen.

2025 ® © Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH/Srl Impressum | Privacy Policy | Netiquette & Nutzerbedingungen | AGB | Privacy-Einstellungen

Nach oben scrollen