Hände im Tiefflug
Ein in vielerlei Hinsicht intensives und beziehungsreiches Klavierkonzert: Der israelische Pianist Inon Barnatan führt bei Musik Meran Werke von Schubert, Rachmaninoff, Ravel und Strawinsky auf.
Von Hubert Stuppner
Das jüngste Klavierkonzert von „Musik Meran“ mit dem israelischen Pianisten Inon Barnatan am 11. Januar war in vielerlei Hinsicht ein intensives und beziehungsreiches, nicht nur dank der Qualität der Interpretationen, sondern vor allem wegen der ästhetischen Dialektik zwischen Fortschrittlichen und Konservativen im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert: Ravel und Strawinsky auf der einen Seite, Rachmaninoff auf der anderen.
In der Musikgeschichte sind ja die gegenläufigen Tendenzen der Erneuerung und des Bewahrens eine Konstante. Auf Beethoven, der den Göttern das Feuer stahl, um es im „Geiste des Mannes zu entzünden“, folgte der bodenständige Schubert, der von Gretchen und schönen Müllerinnen sang; auf den nächsten Prometheus, Richard Wagner, folgte der volkstümliche Mahler und in Russland stand den Avantgardisten Prokofjew und Strawinsky der konservative Rachmaninoff gegenüber, der an den Grundsätzen einer zeitlosen Klassik festhielt.
Als dieser genial begabte Hoffnungsträger der russischen Musik 1888 Jahre zum Studium nach Moskau kam, herrschte in Russland in allen Kunstsparten Aufbruchstimmung. Der dort verbreitete Modernismus stand vor allem unter dem Einfluss des französischen Neoprimitivismus, Konstruktivismus und Symbolismus. Diesem schloss sich Rachmaninoffs Kommilitone Alexander Skrjabin an, der für eine sensualistisch verdinglichte Musik Titel wie „Poème de l’écstase“ und „Schwarze Messe“ erfand, musikalisches Opium aus Paris, wo er sich eine Zeit lang aufhielt und wohin auch der andere avantgardistische Russe, Strawinsky, im Gefolge des Choreographen Sergej Djaghilev, übersiedelte.
Ganz anders Sergei Rachmaninoff, der unweit von Nowgorod auf dem Landgut seiner Familie aufwuchs. Sein Background waren die Hausmusik der Eltern, die Stille der Provinz und das Läuten der Kirchen-Glocken von Nowgorod. Noch viel später, als er bereits im Westen lebte, bekannte er: „Mein ganzes Leben lang habe ich mich an den unterschiedlichen Stimmungen und der Musik von fröhlich und traurig läutenden Glocken erfreut. Eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen ist mit den vier Tönen der großen Glocken in der Sophienkathedrale von Nowgorod verbunden, wenn mich meine Großmutter an Kirchfesttagen in die Stadt führte“. Das waren dann auch die Glocken, mit denen er deutlich hörbar den ersten Satz des 2.Klavierkonzerts einläutete. Seine Faszination für das Archetypische und Elementare war jedoch auch die Kehrseite eines dunklen, zu schwarzer Melancholie und Depressionen neigendes Naturells, das er in einem frühen Brief an seine Cousine so definierte: „Die Schwester der Musik – ist wie die Poesie, die ihre Mutter ist, die Wehmut“. Es versteht sich von selbst, dass Rachmaninoff, durch diese Veranlagung, in der Musik klassische Stabilität suchte und avantgardistischen Experimenten aus dem Wege ging.
Es ist deshalb kein Zufall, dass er 1896 in einer seiner depressiven Phasen, seine sechs „Moments Musicaux“ komponierte und damit nicht nur seine Verehrung für Schubert bekundete, sondern sich auch idiomatisch zu einer Musik der Empathie und der Tröstung bekannte.
Der Interpret beider gleich lautenden Kompositionen, Inon Barnat – ein pianistisches „Leichtgewicht“, geläufige Hände, die wie im Tiefflug über die Tasten rasten, und ein Klavierklang, hell wie eine Glocke, die nie hart anschlug oder schrill läutete – blieb technisch und expressiv nichts schuldig: ein prosodisch eloquentes Spiel bei der Wiedergabe des Schubertschen Spätwerkes – einer Art „Winterreise ohne Worte“, das „mit Inbrunst“ Schuberts letzte Jahre vor dem Sterben erzählt: „Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück“ („Die Winterreise“). In Rachmaninoffs „Momenten“ eine Nocturne-ähnliche Stimmung und ein Pathos, das immer wieder virtuos kulminierte. Man vergleiche dazu Schuberts Satz: „Was sollten wir auch mit dem Glück anfangen, da Unglück noch der einzige Reiz ist, der uns übrig bleibt?“ mit Rachmaninoffs ebenso pessimistischer Lebenseinstellung, die er einer amerikanischen Lady gegenüber äußerte, als diese ihn fragte, warum er denn immer nur traurige Musik schreibe, und Rachmaninoff wortkarg zurückfragte: „Ja, gibt es denn eine andere?“
Nach Rachmaninoffs Gesängen der Nacht trat in diesem intelligent verfassten Programm die Musik mit Ravel und Strawinsky aus den Schatten ans Licht und verbreitete Glanz und festliche Stimmung: allerdings verzerrt durch Geschwindigkeit und Ironie, so wie es die Avantgarde der Jahrhundertwende von den Komponisten erwartete. Ravel und Strawinsky, zwei Meister der Synästhesie, beide mit „Lichtzwang“. Noch dazu bezogen sich Ravels „Valses nobles et sentimentales“ von 1911 – wie die“ Moments musicaux“ von Rachmaninoff – auch auf Schuberts Wien und dessen „Valses nobles“, D 969: für das Publikum eine aktuelle Anregung, über Einflüsse und Wechselbeziehungen zwischen Epochen und Stilen nachzudenken, über eine Zeit, in der Komponisten im ungeteilten Groß-Europa noch ungehindert Zeitreisen unternehmen konnten und sich entweder in der Phantasie im kaiserlichen Wien Schuberts niederlassen konnten, wie Rachmaninoff und Ravel, oder – physisch, wie Strawinsky und Scriabin – im kosmopolitischen und fortschrittlichen Paris….. Diesem freien und friedlichen Austausch haben, wie man weiß, zwei Weltkriege ein Ende gesetzt und das grenzenlos erfinderische und aufgeklärte freie Europa für immer in Stücke gerissen.
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