„Erhöhter Bedarf an Hilfe“
Zurückgefahrene Strukturen, aber eine wesentliche Zunahme der Patienten: Während der Weihnachtsfeiertage gibt es alljährlich akute Engpässe in den psychologischen und psychiatrischen Diensten. Der Primar der Psychiatrie am Krankenhaus Brixen, Roger Pycha, über die Gründe.
Tageszeitung: Herr Pycha, während der Weihnachtsfeiertage nehmen die Depressionen bei den Menschen zu?
Roger Pycha: Das trifft zu. Wie jedes Jahr gab es auch heuer einen erhöhten Bedarf an Hilfe. Zu Weihnachten gibt es mehr Krisen, besonders psychisch erkrankte Menschen fühlen sich verstärkt unter Druck gesetzt und ausgeschlossen, angstgestörte Menschen haben zu Neujahr vermehrt Angst vor der Zukunft. Viele Menschen setzen auch zu große Erwartungen in das Fest, weil alles „perfekt“ sein soll: Das Fest soll schön, friedlich, innig, gesellig und mit positiven Überraschungen bespickt sein. Dies macht die meisten Menschen aufgeregt, es wird dadurch vermehrt gestritten – was die gesündere Reaktion ist. Bei Patienten, die aber zu Depressionen neigen, kann sich hingegen ihr Leiden verschlimmern. All das führt zu einem vermehrten Arbeitsaufwand für die Helfer, die im Dienst sind.
In den Anlaufstellen kommt es zu großen Engpässen?
Das trifft oft zu. Bei allen Feiertagen kommt es zu dieser Dynamik: Es steht vermindertes Personal zur Verfügung, weil die allermeisten Anlaufstellen geschlossen sind, aber die Anzahl der Fälle steigt. Genau wie zu Weihnachten: Die hierfür zuständigen Dienste, die offen haben, sind sehr dünn gesät.
Welche Dienste sind offen?
Es gibt fünf mögliche Anlaufstellen für verschiedene Situationen: Den psychiatrischen Bereitschaftsdienst, der seit dem Jahr 2000 im ganzen Land ununterbrochen funktioniert. Er wird an den Erste-Hilfe-Stationen von Bozen, Meran, Brixen und Bruneck angeboten. Wenn dringende Hilfe erforderlich ist, können sich Betroffene an eine der Erste-Hilfe-Stationen begeben, dort wird der Psychiater im Bereitschaftsdienst gerufen, der innerhalb von 20 Minuten vor Ort ist. Die Patienten können aber auch den diensthabenden Hausarzt kontaktieren oder sich über die Notrufnummer 112 ins Krankenhaus einweisen lassen. Zusammenhängend mit dem 112-Dienst gibt es die Notfallpsychologie: Notfallpsychologen sind rund um die Uhr und auch zu Weihnachten und Neujahr im Einsatz. Und dann gibt es noch die Telefonseelsorge der Caritas, die rund um die Uhr erreichbar ist. In wenigen Wochen werden wir zusätzlich das psychologische Krisentelefon haben, als sechstes Angebot.
Apropos Erste Hilfe: Diese Notaufnahmen der Krankenhäuser waren heuer schon wegen der vielen Touristen und der Unfälle auf den Pisten überlastet. Immer wieder hört man, dass ein dringender psychologischer Fall aufgrund der Überlastung verkannt wird und die Patienten einfach wieder nach Hause geschickt werden…
Das kann im Druck der Ersten Hilfe sehr wohl passieren, weil der Fokus der Ärzte auf den körperlichen Wunden und Krankheiten liegt, an denen ein Mensch versterben kann. Hier muss die Medizin offener werden: Es gibt auch psychische Wunden, an denen Menschen sterben können, wenn sie nicht behandelt werden.
Effektiv braucht es jedoch sehr erfahrene Helfer, Ärzte, Psychiater und Notfallpsychologen an der Ersten Hilfe. Häufig ist es aber so, dass gerade diese Helfer Familie haben und während der Feiertage Urlaub machen und an ihrer Stelle Jüngere im Dienst sind. Aber die jungen Ärzte lernen dann an diesen schwierigen Situationen sehr schnell. Denn die Abschätzung muss sehr rasch erfolgen.
Ist zu Weihnachten die Suizidrate erhöht?
Dies hat sich nicht bestätigt, wohl auch, weil es diese Bereitschaftsdienste gibt. Man muss nur sehr aktiv Hilfe suchen – und dies ist auch mein Aufruf an die Bevölkerung: Wenn ich es nicht mehr aushalte, wende ich mich an die oben genannten Anlaufstellen.
Die Suizidrate erhöht sich hingegen um Ostern – dies sind schwierige Feiertage. Es spielt das Leiden Christi mit hinein. Betroffene erleben manchmal einen Kreuzweg und suchen eventuell den Tod als Erlösung.
Wann ist wieder ein Rückgang der Patienten zu verzeichnen?
Gleich nach den Feiertagen: Einerseits, weil die Anlaufstellen, wie die psychologischen Dienste und Zentren der psychischen Gesundheit wieder offen sind, andererseits, weil der Druck bei den Patienten nachlässt.
Interview: Erna Egger
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