„Zwischen Scham und Stolz“
Herbert Grassl hat am 27. November seinen 75. Geburtstag gefeiert. In Laas geboren, in Salzburg lebend, zählt er zu den bedeutenden österreichischen Komponisten der Gegenwart. Ein Geburtstagsgespräch über seinen Weg, Endstationen in der Kunst und warum es die Hölle wieder bräuchte.
Tageszeitung: Herr Grassl, herzlichen Glückwunsch zum 75. Geburtstag!
Herbert Grassl: Vielen Dank.
Ist Ihnen zum Feiern zumute?
Nein. Aber wie geht der Spruch mit den fallenden Festen?
75 Jahre, das sind 27375 Tage, 657000 Stunden, 39420000 Minuten und 2365200000 Sekunden. Welches Jahr, welcher Tag, welche Stunde sind unauslöschlich in Ihr Gedächtnis eingebrannt?
Minuten, Sekunden und auch noch kleinere Zeitwerte sind in der Komposition maßgeblich. Im Zeitraum von 75 Jahren verschwinden der Minuten- und Sekundenzeiger. Einiges möchte ich Ihnen trotzdem verraten:
- Als ich das erste Mal im Alter von ca. 12 Jahren das erste Mal in der Musikkapelle Laas mitspielen durfte.
- An meine erste Aufführung einer eigenen Komposition: nach der Generalprobe wollte ich alles hinschmeißen. Mein Dirigierlehrer hat mich mit einem langen Gespräch dermaßen aufgebaut, dass ich in der Lage war, das schwierige Stück zu dirigieren. Es wurde ein Erfolg!
- Als Bernadette, meine Frau, in meinem Oratorium „Überschreitungen“ den Psalm „Behüte mich Gott, denn ich vertraue dir“ gesungen hat.
- Als der Schlagzeuger Philipp Lamprecht in der Kapelle von Jörg Hofer mein Schlagzeug Solostück „unter strom“ gespielt hat.
Alte weiße Männer sind das Feindbild unserer Zeit: Fühlen Sie sich als solcher?
Das regle ich mit intensiver Sonnenbestrahlung. So bin ich nur noch weise…
Gelernt haben Sie Mechaniker und wurden dann zum Musikmenschen. War ein anderer Weg gar nicht möglich?
Die Wege verlaufen oft nicht geradlinig. Durch einen anderen Weg wäre ich vielleicht kein Musiker geworden. Die Zeit der Lehre war sehr anstrengend und diese Arbeit hat mich überhaupt nicht interessiert. Das war eine schlimme Zeit. Musik war eine Fluchtmöglichkeit. Vielleicht ist deshalb meine Beziehung zur Musik so tief verwurzelt.
Wenn Sie an Ihr Heimatdorf Laas denken – was fällt Ihnen zuerst ein?
Weißer Stein, eine Bahn, der Schrägwagen, Heuarbeit, Holzarbeit.
Stellen Sie sich noch manchmal die zweiflerische Frage: Was mache ich eigentlich und warum mache ich, was ich mache?
Es mag ein bisschen pathetisch klingen: es ist mein Leben. Ich mache es für mich und hoffe dabei auf ein paar Menschen, denen es möglich ist, daran teil zu nehmen.
Sind Sie rückblickend der Komponist geworden, der Sie einst werden wollten?
Der eigene Anspruch ist einer permanenten Entwicklung ausgesetzt. Das ist für mich eine zu schwierige Frage.
Traditionszertrümmerer oder Grenzenausweiter – wie sehen Sie selbst Ihre kompositorische Praxis?
Es gibt in der Entwicklung der Kunst gewisse Endstationen: ein Orgelstück dauert nun schon 19 Jahre (John Cage). Soll man noch längere Stücke komponieren? Wenn in der bildenden Kunst ein Bild in der Farbe Blau entsteht- nichts als blau- dann ist das Ende einer Entwicklung erreicht. Es hat wenig Sinn noch ein gelbes oder rotes Bild hinzuzufügen. So macht man sich auf die Suche nach Wegen, die seitwärts oder auch zurück, in noch unentdeckte Gefilde führen. Nachahmungen und angestrebte Anpassungen an ein bestimmtes Publikum sind aber nicht gestattet. Das ist die Theorie. In der Praxis gibt es wohl Fransen an den Rändern.
Ich arbeite ohne Schablonen. Hin und wieder werden Grenzen ausgeweitet, wenn sich etwa Marmorstein und Marmorstaub mit Musik verbindet (Aufführung im Marmorbruch mit gefilmten Bildstrukturen von Jörg Hofer) oder wenn Musik auf Fahrrädern in Plätzen und Straßen erklingt (Veranstaltungen in vielen Städten Europas und bei den ISCM WORD MUSIC DAYS 97 in Seoul/Korea).
Gestatten Sie sich so etwas wie Stolz auf das, was Sie geschaffen haben?
Irgendetwas zwischen Scham und Stolz.
Doktor Faustus sagt im gleichnamigen Roman von Thomas Mann: „Die Musik ist dämonisches Gebiet …“ Einverstanden?
Nein. Dr. Adrian Leberkühn, die Romanfigur, mit der Thomas Mann den Komponisten Arnold Schönberg assoziiert, liegt falsch. Schönberg hat sich vielleicht auch deswegen mit Thomas Mann überworfen. Man kann aber Musik für dämonische Zwecke missbrauchen. Dafür gibt es genügend Beispiele, auch in unmittelbarer Vergangenheit. Wenn man an die Verbrechen der russischen „Wagner Truppe,“ und dessen Gründer Dmitri Utkin, der ein Fan Nazideutschlands, der SS und der Musik Richard Wagners Musik war, mag das zutreffen.
Aktuell wird unter Musikschaffenden der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) heftig diskutiert. Haben Sie bereits Erfahrung damit gemacht und was erwarten Sie sich davon?
Nein, ich arbeite an meiner nachlassenden menschlichen Intelligenz.
Musikalisch werfen Sie zum Geburtstag einen Blick in die Hölle. Ihre Komposition „INFERNO“ nach Texten von Charles Baudelaire und Dante Alighieri, wird vom Ensemble Chromoson in Meran, Wien und Salzburg aufgeführt. „Man sollte, klimaneutral, die Hölle wieder einführen!“ schreiben Sie dazu. Weil es ohne höllische Strafandrohungen auf Erden offenbar nicht funktioniert?
Da ist meine Komposition zweigeteilt: Im ersten Teil geht es um die Hölle auf Erden. Charles Baudelaire war einer der zahlreichen Künstler, dem zu Lebzeiten die Anerkennung verweigert wurde. Manche mussten die Hölle auf Erden erleben. Im Gedicht „mort“ von Baudelaire wird Kapitän Tod angewiesen, in die unbekannte Tiefe zu segeln: „cielo o inferno, cosa importa? Dante Alighieri zählt uns, durch Virgil, die Übeltaten auf, die punktgenau auch auf die Gegenwart bezogen werden können. So hat mein etwas kabarettistischer Zugang zum Thema Hölle einen sehr ernsten Hintergrund: alle oben aufgezählten Untaten finden statt, von der Zerstörung der Umwelt bis zu kriegerischen Gewalt- und Mordtaten.
„Ein warmes Plätzchen (hoffentlich nicht zu heiß) müsste ich dann wohl selbst einnehmen“, schreiben Sie weiter. Was haben Sie denn zu sühnen?
Bitte ersparen Sie mir die Liste, Sie würde den Umfang dieses Interviews sprengen. Außerdem: Beichtgeheimnis?
Aktuell wird von Kunstschaffenden verlangt, sich dauernd und unmissverständlich zu weltgeschichtlichen Ereignissen zu äußern. Wie gehen Sie mit diesem Bekenntniszwang um?
Ich verspüre keinen äußerlichen Zwang, außer dem, den ich mir selbst auferlege. Ein früherer Bundeskanzler ist mit dem Satz „es ist alles so kompliziert“ berühmt geworden. Tatsächlich muss vieles hinterfragt werden. Bestialische Ermordungen in Israel, aber das Bild einer Frau aus den zerbombten Wohngebäuden in Gaza. Sie sitzt mit ihren Kleinkindern mittellos auf der Straße und sagt: seht her, das sind eure Bestien.
Manche verweigern sich und sagen, das sei Sache der Politiker. Andererseits ist es ein bisschen luxuriös in der heutigen Zeit, unpolitisch zu sein. Welche Verantwortung haben Künstler in Ihren Augen?
Man darf die Wirkung der Kunst nicht überschätzen. Aber das Bild GUERNERICA von Pablo Picasso, das Gedicht GRODEK, von Georg Trakl, oder auch nur die kleine Kriegssequenz im Agnus Dei der D-Dur Messe von Beethoven, vor dem „dona nobis pacem“ das mich jedes Mal beim Anhören erschaudern lässt – das sind Warnungen, die eine Beeinflussung zeigen könn(t)en. In demokratischen Ländern kann man Politik ja noch ein bisschen mitgestalten.
Was tut eine sich verfinsternde Weltlage mit Ihrer Musik? Ist das schaffensauslösend oder lähmend?
Weder noch. Noch!
Verbietet der Krieg das Nachdenken über die Kunst?
Nein, natürlich nicht.
Würden Sie sagen, dass sich Ereignisse wie der Ukraine-Krieg oder aktuell der Krieg in Gaza in Ihrem Schaffen spiegeln? Wenn ja, wie?
Die Bilder die man aus Israel und Gaza zu sehen bekommt, muss man erst einmal aushalten. So viel unermessliches Leid, von Menschen erzeugt und von anderen Menschen ertragen… Mitleid, Lähmung, Traurigkeit, aber keine Musik.
Kann Musik eine Rolle bei der Versöhnung spielen?
Da muss ich an Weihnachtsbegegnung an der deutsch französischen Front im ersten Weltkrieg denken. Feindliche Soldaten feiern mitten im Krieg zusammen das Friedensfest. Sie singen zusammen! Sie werden dafür bestraft und das sinnlose Abschlachten geht weiter.
Von wo nach wohin soll es im Leben und Schaffen von Herbert Grassl noch gehen?
Möglichst wenig Stress. Noch ein paar Kompositionen – Vielleicht. Aufräumen, Gartenarbeit, spazieren.
Interview: Heinrich Schwazer
Zur Person
Herbert Grassl, geboren 1948 in Laas, studierte nach Anfängen als Trompeter in der Musikkapelle Laas Musikerziehung und Chorleitung am Salzburger Mozarteum sowie ebendort Komposition bei Cesar Bresgen und postgradual bei Irmfried Radauer und Boguslaw Schaeffer. Zweimal erhielt er das Österreichische Staatsstipendium. Von 1988 bis 1997 leitete er das Österreichische Ensemble für Neue Musik (oenm) und dirigierte eine Vielzahl von Konzerten weltweit. Zu Grassl Werken gehören u.a. die Opern „Pygmalion” und „Sheherazade”, aufgeführt in den Opernhäusern von Kairo und Alexandria mit dem oenm, die 2013 beim Mattseer Diabelli Sommer uraufgeführte Kirchenoper „Harisliz – die Fahnenflucht Tassilos“, neun Orchesterwerke für Radio Sinfonieorchester RSO Wien, Mozarteumorchester Salzburg, Haydnorchester Bozen Trient, Danziger Sinfonieorchester, Orchester des Saarländischen Rundfunks mit Aufführungen im Rahmen der IGNM Weltmusiktage 2000 in Luxemburg, und der Weltausstellung Millenium in Hannover) Tiroler Sinfonieorchester (Gemeinschaftskomposition mit Hossam Mahmoud bei den Klangspuren Schwaz) und eine Reihe von Werken für Chor und Orchester, bzw. Instrumentalensemble und Vokalsolisten, u.a. „Überschreitungen“, „Trauerkantate 1914 – 2014“, „Von Liebe singen“, „Tassilo Herzog – Krieger – Mönch“. Grassl verfasste auch eine große Anzahl von Werken für Kammermusik, darunter 4 Streichquartette, ein Streichquartett mit Akkordeon (Incontri), Bläserensembles, Sologesang und Soloinstrumente. 1977 – 1988 war er Mitorganisator des Festivals für Neue Musik „Aspekte Salzburg“. Mit dem bildenden Künstler Otto Beck entwickelte er 1991 die „Klangmobile“, mit denen öffentliche Plätze von Salzburg bis Seoul (Weltmusiktage 1997) bespielt wurden. In Zusammenarbeit mit dem Maler Jörg Hofer wurden Projekte, wie z.B. die „Berührungen” (Aufführung im Göflaner Marmorbruch in 2250 m Seehöhe) realisiert. Herbert Grassl war bis 2017 künstlerischer Leiter der Internationalen Paul-Hofhaymer- Gesellschaft Salzburg. Im Jahr 2010 erhielt er den Großen Kunstpreis für Musik des Landes Salzburg.
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