Warum töten Männer Frauen?

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Jeden dritten Tag wird in Italien im Durchschnitt eine Frau ermordet. Für den Direktor des Forum Prävention, Peter Koler, steht fest, dass man Femizide nicht nur auf Einzelfälle reduzieren dürfe, sondern das kollektive Männerbild problematisch ist.
Tageszeitung: Herr Koler, Sie haben in den sozialen Medien als Reaktion auf den Mord an der 22-jährigen Giulia gepostet, dass „die maximal unbequeme Antwort auf die Frage: Warum so oft? Warum schon wieder? im kollektiven Männerbild zu finden ist“. Worauf wollen Sie damit hinaus?
Peter Koler (Psychologe und Direktor des Forum Prävention): Das Grundproblem ist, dass man solche Taten immer reduziert, indem man von einem Einzelfall spricht, von einem Mann, der aus der Reihe getanzt ist und gleichzeitig auch noch der Frau eine gewisse Restschuld gibt – hätte sie nicht diesem letzten Treffen zugestimmt, hätte sie keinen so kurzen Rock getragen usw. Diese Stereotype tauchen immer auf, wenn so ein Mord passiert. Und dann gibt es noch die klassische Männerposition, die mit dem ganzen bricht, indem sie sich von diesem Vorfall distanziert: „Ich bin ja nicht so.“ Aber als Präventionsmensch bin ich gewohnt, diese Sachen auch in einem erweiterten Kontext zu sehen und man muss dieses Problem einfach auch auf der strukturellen Ebene anschauen. Und auf der strukturellen Ebene existiert immer noch diese patriarchale Idee, wo es ein Ungleichgewicht gibt zwischen Männer und Frauen, wo Männer einen Anspruch haben können auf Frauen, wo die Rollenverteilung klar ist usw. Und wenn man nicht anfängt das infrage zu stellen, wird man keine Veränderung herbeiführen.
Also ist die Position von vielen Männern – ich bin ja anders, so etwas mache ich nicht – zu einfach gedacht?
Ja, ich kann ja auch sagen: Ich bin ein Mann und setze mich gegen Gewalt an Frauen in irgendeiner Form ein. Das heißt aber immer noch, dass ich mich distanziere von jenen Männern, die potenziell da sind und Übergriffe machen. Es geht also auch um die Frage, wie Männer konstruiert werden, dass sie diese Idee im Kopf haben. Wie werden Männer konstruiert, dass sie es als Kränkung empfinden, wenn eine Frau Nein sagt? Und das hat mit patriarchalen Strukturen zu tun.
Aber wenn man diesen Gedanken weiterspinnt, könnte man sagen, dass alle Männer potenziell Mörder sind?
Das sage ich jetzt nicht, aber ein patriarchales System erlaubt in subtilen oder weniger subtilen Formen gewalttätig gegenüber Frauen zu sein. Und die Spitze des Eisbergs ist der Femizid.

Peter Koler
Beim mutmaßlichen Täter handelt es sich um einen jungen Mann, ein Student, der bislang nicht auffällig gewesen sein soll. Ist es nach wie vor nicht gelungen, ein Umdenken herbeizuführen? Nicht einmal in der jüngeren Generation?
Für mich ist und bleibt dieser Fall nicht erklärbar. Man kann zwar versuchen, Antworten zu finden, aber egal welchen Erklärungsansatz wir wählen, schlussendlich landen wir wieder beim Verhalten des Mannes und der Frage: wie erklären wir das Verhalten dieses Mannes, dass es so weit gekommen ist. Am Ende wird immer noch eine Verstehbarkeit für die Gewalttat produziert.
Und damit landen wir auch bei der Frage: Warum tun Männer so etwas?
Weil es im erweiterten Narrativ, das auch die Gedanken des kollektiven Männerbild bestimmt, erlaubt zu sein scheint.
Aber warum schafft man es nicht einmal bei so jungen Generationen diese patriarchalen Strukturen aufzubrechen?
Das System läuft ja weiter, egal wie alt man ist. Dass es eine Trennung gibt zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit, diese Rollenverteilung, die Sexualisierung der Körper – all das läuft weiter, hier gibt es ja keinen Bruch. Hier gibt es keine Veränderungen. Ich sehe keinen Grund, warum die junge Generation diesem Narrativ nicht ausgesetzt ist.
Ihre Position ist eine sehr feministische…
(lacht) Ja.
Diese Themen Gleichberechtigung, Gender Pay Gap usw. werden ja sehr oft als „Frauensache“ abgestempelt…
Ich glaube, dass viele Männer auch unter dem Patriarchat leiden und es eine schmerzvolle Erfahrung ist, nachvollziehen zu müssen, dass Femizide immer wieder begangen werden. Und um in diese erweiterte Reflexion zu gehen, hängt auch davon ab, wie man mit feministischen Diskursen in Diskussion sein kann. Sicher gibt es hier auch Polarisierungen.
Es wäre aber wichtig, dass sich auch Männer um diese Themen kümmern?
Absolut. Für Männer ist das herrschende System in vielen Situationen auch ein Erleiden von Druck, von Konkurrenz und Rollenbildern, wie Männer zu sein haben.
Sie schreiben auch: „Solange wir alle dem weiter unterliegen, wird es kein Ende geben.“ Wie kann man hier eine Veränderung herbeiführen? Reichen Aktionstage und Sensibilisierungskampagnen nicht aus?
Es wird sukzessive etwas passieren, aber wir sprechen sicher immer nur von ersten Schritten. Es ist mehr eine Frage, wie lange braucht man, dass diese Gedanken weitergehen als zu sagen, dass es ein Einzeltäter war – denn dann wird man auch das System und die strukturellen Probleme dahinter infrage stellen. Schnelle, einfache Lösungen funktionieren nicht, die Komplexität wird aber nicht erwünscht. Es geht sicher zum einen um die Person, ihre Anlagen und ihr Erlebtes, aber ein weitaus größerer Teil ist der Kontext, indem die Person lebt – daran muss man in Zukunft beginnen mehr zu denken. In diesem Sinne müsste es nicht mehr heißen: „Schützt eure Töchter, sondern schützt eure Kinder vor dem herrschenden Männerbild.“
Interview: Lisi Lang
Kommentare (10)
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