„Wenn die Kinder artig sind“
Definitiv kein Daumenlutschtheater: Torsten Schilling inszeniert im Stadttheater Bruneck die Junk-Oper „Shockheaded Peter“ nach Motiven aus „Der Struwwelpeter“ von Heinrich Hoffmann.
Mit den Fingernägeln könnte er Freddy Krueger aus dem Horrorfilm „Nightmare on Elmstreet“ locker in die Flucht schlagen, in seinem halbverschimmelten Zottelschopf könnte eine Läusezucht ein gemütvolles Zuhause finden, er fletscht die Beißerchen wie ein Wolf beim Casting für die Dolomiten-Titelseite und seine punkigen Klamotten sind auch nicht wirklich erstkommuniontauglich.
Struwwelpeter heißt der Zähnefletscher und Krallenzeiger. Eigentlich war er ein braves Büblein, das „immer artig aufgegessen“ hat und ruhig auf seinem Stuhl gesessen ist. Bis zu dem Tag, an dem man ihm das „schöne“ Bilderbuch vom Struwwelpeter geschenkt hat. Von da an „lass ich Haar und Nägel lang, sauf Alk und zünd mir ́ne Tüte an!“
Im Struwwelpeter, dem weltberühmten Kinderbuch des Frankfurter Arztes und Psychiaters Heinrich Hoffmann aus dem Jahr 1844, steht das natürlich nicht. Dort steht das genaue Gegenteil, dort ist er das Schmuddelkind, mit dem Generationen von Kindern zum Gehorsam erzogen wurden:„Pfui, ruft da ein wirklich jeder / Was ein garstger Struwwelpeter.“
Wer das Bilderbuch resttraumatisiert hinter sich gelassen hat, kann auf der Bühne des Stadttheater Bruneck die Abrechnung mit dem Machwerk der schwarzen Pädagogik erleben, eine Ode an das wilde Kind, das sich „durch Anarchie vom Frust“ befreit. Eine Marionette wie sie selbst wollten die Eltern zum Kind, doch der Peter lässt sich die Kindheit nicht versauen: „Das Struwweln ist sein Schrei nach Liebe, stattdessen gibt es Zucht und Hiebe.“
Eine „Junk-Oper“ (Mülloper) nach Motiven aus „Der Struwwelpeter“ von Heinrich Hoffmann nennen Phelim McDermott / Julian Crouch / Martyn Jacques ihre Version des Struwwelpeter. 1998 wurde es von der britischen Band „The Tiger Lillies“ unter dem Titel „Shockheaded Peter“ erstmals auf die Bühne gebracht, seither steht es quasi ohne Unterbrechung auf europäischen Theaterzetteln.
Für das Stadttheater Bruneck inszeniert es Torsten Schilling, der mit einigen kräftigen Strichen eingegriffen hat. Die wichtigste Änderung: Statt einem Variété-Direktor, der die Figuren wie ein Zeremonienmeister vorführt, lässt er die Kinder selbst zu Wort kommen und er baut Zitate aus der Rezeptionsgeschichte des als Kinderbuch getarnten brachialpädagogischen Werks ein. Zweiter entscheidender Eingriff: Er fügt ein Puppenspiel ein, das die Figuren wie in einem Reenactment in ihre Kindheit zurückbeamt. Während auf der Bühne erzählt wird, führen die gleich wie die DarstellerInnen gekleideten und von der Puppenspielerin Eva Sotriffer bedienten Puppen die Horrorszenen von abgeschnipselten Daumen und dem in Flammen aufgehenden Paulinchen in dramatischster Gestalt vor.
Schauspiel, Musiktheater und Puppenspiel verknüpft Schilling zu einer hoch- aber nie übertourigen Grusel-Show, die wundersam einfallsreich, schwarzhumorig und mit radikaler Spaßentschlossenheit das Premierenpublikum begeisterte. Sprech- und Gesangspassagen lässt er übergangslos ineinanderfließen, dass man einem Lieder- wie einem zupackenden Schauspielabend beiwohnt. Den schräg-makabren Sound dazu liefert Toni Taschler mit einer dreiköpfigen Band (Akkordeon, Kontrabass, Schlagzeug).
Kerstin Kahl hat die Bühne mit den Särgen möbliert, aus denen der Struwwelpeter die 4 „toten“ Kinder Kaspar, Konstanze, Friederich und Nyam mit rüden Schlägen wieder ins Leben zurückholt. Sie wollten nicht artig sein, sie rebellierten – und bezahlten dafür mit dem Leben: „Entsteigen wir heute unseren Gruften und wollen für eure Erlösung schuften“ singen sie in der Ouvertüre.
Julia Neuhold hat Eva Sotriffer , Anna Fink, Julia Taschler , Fabian Mutschlechner , Mirko Costa und die Puppenspielerin Eva Sotriffer, die zugleich den Struwwelpeter spielt, in gruftige Zombieklamotten gesteckt und ihnen abenteuerliche Frisuren verpasst. Sie alle brillieren gesanglich wie spielerisch von der ersten Nummer an, sie rasen, rappen und rocken nach einer Choreografie von Rebecca Dirler exaltiert über die Maßen hin und her.
Das beginnt schon bei der ersten Szene. Ihren Gruften entstiegen, bejubeln sie „Shockheaded Peter“ in jugendlicher Rotzigkeit wie einen Rockstar. Danach werden die Geschichten, angefangen beim Suppen-Kaspar, über die Daumenlutscherin, die Story vom bösen Friedrich, die Geschichte vom bösen Jäger, der zum Gejagten wird, vom Zappelphilipp, vom zündelnden Paulinchen, vom Hanns-Guck-in-die-Luft bis hin zur fliegenden Roberta in einer fieberhaften Prozession durchgespielt und verschmolzen.
Es sind knapp zwei Stunden mit einer Pause, die Schillings DarstellerInnen in einem fröhlich-anarchistischen Gesamtkunstwerk aus Varieté, Musiktheater und Puppenspiel auf der Bühne verbringen. Aber sie sind einfach umwerfend. Schaut nach dem Theaterheuler der Saison aus. Definitiv kein Daumenlutschtheater. (Heinrich Schwazer)
Weitere Aufführungen: 31. Oktober, 2., 8., 9. November jeweils um 20.00 Uhr im Stadttheater Bruneck. www.stadttheater.eu
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