Mozart und Wagner-Verköstigung
Das Klangkollektiv Wien unter dem letzten Schüler von Sergiu Celibidache Rémy Ballot und der hierzulande noch völlig unbekannte griechisch-deutsche Pianist Aris Alexander Blettenberg eröffneten die Konzertsaison von Musik Meran mit Mozart und Wagner.
Von Hubert Stuppner
Beethoven ist der Größte, Mozart der Einzige, heißt es unter Musikern, wobei mit der „Einzigartigkeit“ viele auf eine außerirdische Inspirationsquelle hinweisen. Das glaubte zumindest Nikolaus Harnoncourt, der als ehemaliger Wiener Philharmoniker freimütig bekannte, dass er nach einer gleichgültig herunter gespielten Mozartschen g-moll-Symphonie den Dienst bei den Philharmonikern quittierte und sich schwor, als Dirigent Mozart, dem „Göttlichen“, seine ganze Liebe und Aufmerksamkeit zu widmen.
Richard Strauss sah Mozarts Überlegenheit ähnlich erhaben, als er 1945 an Karl Böhm schrieb: „Die Geburt der Mozartschen Melodie ist die Offenbarung der von allen Philosophen gesuchten menschlichen Seele.“ Einer menschlichen Seele, die Musik macht, indem sie singt, und zwar „in den höchsten Tönen“. Man denke nur an das Kopfmotiv der g-moll-Sinfonie, das im selben Fieber-Rhythmus des erotisierten Hermaphroditen Cherubino in „Nozze di Figaro“ daherkommt: „Non so più cosa son, cosa faccio. Or di foco io son, or di ghiaccio“
Als letzte Woche „Musik Meran“ die neue Saison mit einem Konzert eröffnete, an dessen Beginn Mozarts letztes Klavierkonzert stand und am Ende Mozarts vorletzte Symphonie in g-moll, dann sollte das etwas Besonderes werden, denn einerseits ging es um zwei Mozartsche Schwanengesänge, dem B-Dur-Konzert am Beginn, in Mozarts Todesjahr entstanden und mit Mozart selbst am Klavier wenige Monate vor seinem Tod gespielt, und die besagte g-moll-Symphonie, ein „actus tragicus“ des von Geldnöten gezeichneten Genies auf dem Weg zur Endstation seines unvollendeten Lebens.
Ein besonderes Ereignis auch deshalb, weil dem Zuhörer mit Rémy Ballot, dem letzten Schüler von Sergiu Celibidache, ein Konzept der Interpretation vorgestellt wurde, das die Musik, und zwar jede Art klassischer Musik, mit Hilfe der Phänomenologie , zu entschlüsseln und zu interpretieren sucht. Celibidache nannte für diese Art der Hermeneutik drei Stadien: die korrekte Interpretation der Noten, die klare, durch Atempausen getrennte Phrasierung und die dynamisch lebendige Steuerung der frei gesetzten Energie, die Emotionen auslöst. Noten werden sozusagen „gezündet“, mit elastischer Dynamik und Agogik bewegt und auf den Höhepunkten zur „Explosion gebracht“.
Phänomenologie also als möglichst genaue Klassifizierung aller akustischen Ereignisse der Klassischen Musik mit dem Ziel der Steigerung, und ein humanistischer Ansatz, den Zuhörer emotional „mitzunehmen“. Ein historisch phänomenales Beispiel dieses perfektionistischen Musikverständnisses ist Celibidaches Interpretation der Ersten „Rumänischen Rhapsodie“ von Enescu in Bukarest 1978 (Youtube: Celibidache in Bukarest, Enescu: Rapsodia Romanesca N.1).
Im Meraner Konzert konnte man diese Prinzipien am deutlichsten in Wagners „Siegfried-Idyll“ erleben. Eine tiefschürfende romantische „Wagner-Verköstigung“, in dem Sinne, dass der Celibidache-Schüler mit seinem „Klangkollektiv“, jeden Takt mit solcher Melodie-Seligkeit auskostete, dass man sich davon nicht satt hören konnte. Er nahm sich dazu fast doppelt so viel Zeit als andere Dirigenten, die das Werk, um die minimalistischen Wiederholungen des immergleichen Motivs zu kaschieren, a tempo dirigieren.
In Ballots ständigem, durch augenblickliche Fermaten tief Luft holendem Retardieren und wieder Animieren holte er sich das Publikum und führte es, wie in Klingsohrs verhextem Zaubergarten, durch die wunderbare von Motiven sprießende Wagnersche Vegetation. Ein Dirigent, der wie ein Florist im wuchernden Unterholz die Wurzeln freilegt, behutsam die motivischen Zweige entfaltet und die nach ober strebenden Trieb-Gewächse in die Hand nimmt, bis der Stamm bis in die Wipfel freigelegt ist: Das ist phänomenal und formal dennoch werkgerecht wie ein Rilksches „atmendes Klarsein“.
In diesem Konzert ließ bereits das Klavierkonzert am Beginn aufhorchen. Solist des Mozartschen B-Dur-Konzertes war nämlich der hierzulande noch völlig unbekannte griechisch-deutsche Pianist Aris Alexander Blettenberg, Sieger des letzten Wiener Internationalen Beethoven-Wettbewerbes, ein ausgewiesener Klassik-Spezialist, Kammermusik-Partner von ebenso klassisch kompetenten Solisten wie Julia Fischer und Christian Tetzlaff. Durch dieses an Raffinesse nicht zu überbietende Spiel konnte man sich – mit dem Ohr an den Türen des Rokoko und durch einen Blick durch ein Guckloch in die kaiserlichen Gemächer – den göttlichen Apoll Mozart vorstellen, wie er 1791 an einem 5 Oktaven breiten hölzernen Anton Walter-Hammerflügel die höfische Gesellschaft unterhielt und becircte: mit irren Läufen, melodischen Gesten à la „Küss die Hand“ und kitzelnden Mordenten im Diskant.
Das war echte historische Aufführungspraxis, aber nicht die auf alten Original-Instrumenten, die für einen großen Konzertsaal nicht taugen, sondern brillant simulierter Rokoko-Klang auf einem modernen, weit tragenden Steinway.
Wie das gelingen kann? Mit dem Gebrauch des linken Pedals, dem elektrisierenden Fingerspiel einer leichtfüßiger Anschlagstechnik und einer außerordentlichen musikalischen Intelligenz, mit der die frivolen „Affekte“ des Rokoko spontan erfasst werden, die Etikette der heimlichen Blicke, die heimlichen musikalischen Augenaufschläge und das erotische Schattenspiel hinter Masken und Fächern.
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