„Obdachlose machen keine Stimmen“
In Bozen sind mehr als 100 Frauen und Männer obdachlos. Warum ihre Zahl steigt und was es braucht, damit sich im Winter die Notlage des vergangenen Jahres nicht wiederholt, erklärt Paul Tschigg, Vorstandsmitglied von „housing first bozen“.
Tageszeitung: Herr Tschigg, mit dem Anbruch des Herbstes und dem bevorstehenden Winter wird für viele Obdachlose das Überleben auf der Straße noch schwieriger. Wie gut ist Bozen dieses Jahr gerüstet?
Paul Tschigg: Wir öffnen unsere Obdachlosenunterkunft jetzt im Oktober. Von der öffentlichen Hand habe ich noch nicht gehört, wann sie öffnen, wie viele Plätze sie zur Verfügung stellen und wie lange sie im nächsten Jahr geöffnet lassen. Im letzten Winter hat es geheißen, man wird sicherlich vorbereitet sein auf den nächsten Winter, damit sich die Situation vom letzten Jahr nicht wiederholt, aber seitdem haben wir nichts mehr gehört. Ich glaube, es sind keine Alternativen gesucht worden, um es besser zu machen als vergangenes Jahr.
Die Diskussion konzentriert sich sehr häufig auf Bozen. Ist das Problem dort am größten?
Bozen ist die größte Stadt, dort ist die Quästur, es gibt einen Hauptbahnhof. In anderen Landesteilen gibt es zwar diese Problematik auch, aber es sind weniger Personen davon betroffen. Diese werden in kleineren vorhandenen Strukturen aufgenommen. In Bozen kommt noch die Migrationsproblematik hinzu. Die Flüchtlinge, die am Brenner zurückgeschickt werden, kehren zurück nach Bozen, weil sie dort Freunde oder Verwandte finden. Bozen ist immer das Auffangbecken. Die Gemeinden rund um Bozen müssten hier die Stadt eigentlich entlasten ebenso wie andere größere Städte wie Meran, Brixen, Bruneck. Man muss aber unterscheiden: Das Problem Migration fällt in den Kompetenzbereich des Landes, während für die Obdachlosen die Gemeinden zuständig sind.
Hat die Zahl der Obdachlosen im Zuge der Inflation, der gestiegenen Zinsen und der generell schwierigen Situation auf dem Wohnungsmarkt zuletzt zugenommen?
Obdachlosigkeit ist ein Thema, was zunimmt, was prekärer wird, was auch immer jünger wird. Früher waren es oft Alkoholiker, heute sind es zudem Menschen, die 800 Euro Gehalt bekommen und keine Wohnung haben, Menschen, die aus familiären oder privaten Gründen in Schwierigkeiten geraten sind, spielsüchtig sind und Überganglösungen brauchen. Die Gründe sind heute sehr verschieden. Der fehlende und teure Wohnraum ist sicher ein großes Problem.
Wie hoch wird die Dunkelziffer geschätzt?
Die Zahl variiert immer. Eine Schätzung der Dunkelziffer ist schwierig.
Warum tut Südtirol so wenig für obdachlose Menschen?
Die Obdachlosen machen keine Stimmen. Sie sind die letzten in der ganzen Reihe. Es gibt tausende Möglichkeiten und Konzepte, die man früh genug schaffen könnte, denn dann gewinnen wir letztlich alle – hauptsächlich die Betroffenen. Es geht nicht darum 150 Schlafplätze in einer Industriehalle zu schaffen. Das ist kein Konzept. Das ist nicht würdevoll. Das kann nicht gut gehen. Dazu kommen noch Religion, Sprache und unterschiedliche Kulturen.
Vor kurzem öffnete „dormizil 2“. Hat der Verein lange nach einer entsprechenden Immobilie gesucht?
Im März haben wir angefangen, haben drei Strukturen angeschaut und schließlich mit dem Besitzer der Immobilie in der Vintlstraße, der voll hinter dem Projekt steht und uns unterstützt, zweimal eine halbe Stunde gesprochen.
Gibt es neben den dormizil-Nachtquartier weitere Initiativen?
Sensibilisierung ist sehr wichtig, die Gesellschaft auf diese Thematik aufmerksam zu machen. Wir sind zu Vorlesungen in die Universität Brixen eingeladen worden und einzelne Gruppen von Jugendlichen können uns besuchen kommen, um ihnen das Thema näher zu bringen und gleichzeitig auch Ängste zu nehmen.
Was erwartet die Frauen und Männer in den Nachtquartieren?
Sie sind willkommen, sie fühlen sich zu Hause, Begegnung auf Augenhöhe. Sie werden akzeptiert und respektiert so, wie sie sind, was natürlich aber auf Gegenseitigkeit beruht. Vergangenes Jahr hatten wir 13 verschiedenen Nationalitäten im Haus. Es ist nicht immer alles leicht und perfekt. Sie bekommen in der Früh ein ordentliches Frühstück und für den Abend haben wir Mikrowellenherde, die wir zur Verfügung stellen.
Wie lange können sie dort bleiben?
Wir öffnen am 17. Oktober und schließen am 15. April und solange können sie auch bleiben. Sie brauchen einfach Zeit an- und runterzukommen sowie anschließend, um Kontakte aufzubauen.
Gibt es auch Obdachlose, die kein Nachtquartier suchen, sondern es aus verschiedenen Gründen vorziehen auf der Straße zu bleiben?
Es gibt einige sehr wenige, vielleicht ein oder zwei. Meistens stecken psychische Gründe dahinter, schlimme Erfahrungen, die diese Personen gemacht haben. Da braucht es Zeit und viel Geduld, bis sie sich wieder an ein Haus gewöhnen.
Welche Forderungen würden Sie an die künftige Regierung stellen?
Die Forderung, die ich seit vielen Jahren immer wieder stelle: Es muss endlich ein klares Konzept gemacht werden, welche Verpflichtungen es für die Gemeinden gibt und welche für Städte wie Bozen, Meran oder Brixen.
Interview: Sandra Fresenius
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