Über das Tabu reden
Forschungsleiterin Andrea Fleckinger über die Studie zu den Langzeitfolgen von sexualisierter Gewalt „Traces“, die Suche nach Teilnehmerinnen und welche Erkenntnisse sich die Initiatorinnen erwarten.
Tageszeitung: Frau Fleckinger, für die Studie „Traces“ werden Frauen aus dem Vinschgau gesucht, die über ihre Erfahrungen sexualisierter Gewalt sprechen. Was fällt in diese Kategorie?
Andrea Fleckinger: Alle Formen von Übergriffen auf Mädchen und Frauen, die gegen ihre körperliche Selbstbestimmung gehen. Dazu zählen Vergewaltigungen, aber auch unerwünschte Berührungen und Küsse oder sonstige Handlungen, wo Frauen nicht selbst über ihren Körper bestimmen können. Die Studie ist damit sehr aktuell.
Warum nur Frauen aus dem Vinschgau?
Aus Gründen unserer begrenzten Ressourcen. Es war von Anfang an klar, dass wir unsere Studie nicht auf das ganze Land ausdehnen können, obwohl Bedarf da ist. Also mussten wir uns entscheiden. Es sollte in jedem Fall ein ländliches Gebiet sein, da die Folgen sexualisierter Gewalt sehr kontextgebunden sind und es Unterschiede zwischen Stadt und Land gibt. Dazu kommt, dass Initiatorin Monika Hauser von medica mondiale Wurzeln im Vinschgau und daher einen starken Bezug zu diesem Gebiet hat. Der Vinschgau soll jedoch keinesfalls stigmatisiert werden. Es ist definitiv nicht so, dass es hier mehr Fälle sexualisierter Gewalt gibt als anderswo.
Wie viele Teilnehmerinnen suchen Sie?
„Traces“ ist eine qualitative Studie, d.h. wir sind nicht an eine konkrete Zahl von Frauen gebunden. Im Idealfall suchen wir Interviewpartnerinnen, wo auch die Töchter und Enkeltöchter bereit sind mit uns zu sprechen. Dieser Dreierschritt innerhalb einer Familie wird uns wahrscheinlich nicht immer gelingen. Deshalb suchen wir auch einzelne Teilnehmerinnen, die sexualisierte Gewalt überlebt haben oder auch Töchter, die von Übergriffen auf ihre Mütter wissen. Sehr interessiert sind wir an der älteren Generation, da wir einen sensiblen Blick auf den Kriegs- und Nachkriegskontext haben. Solche besondere Situationen mit viel Armut sind auch Nährboden für sexualisierte Gewalt.
Gibt es bereits Interessentinnen?
Ja, einige Frauen haben sich bereits gemeldet.
Wie gehen Sie bei den Interviews vor?
Wir sind ein Team von sieben Interviewerinnen, die im STA-Ansatz geschult sind. Das ist ein stress- und traumasensibler Ansatz, der von medica mondiale entwickelt wurde und darauf ausgerichtet ist, gezielt mit Überlebenden sexualisierter Gewalt zu arbeiten und einen sensiblen Kontakt aufzubauen. Ausgehend von einem Interview-Leitfaden stellen wir offene Fragen zu den Erfahrungen und Folgen von übergriffigen Handlungen. Das ist das, was uns vorwiegend interessiert. Die Fragen sind: Was geschieht, wenn eine Person sexualisierte Gewalt erlebt und sie keine Möglichkeit hat, ihre Erfahrungen aufzuarbeiten, weil niemand zuhört, ihr niemand glaubt und in der Gesellschaft kein Bewusstsein dafür da ist? Welche Auswirkungen hat dies auf die Kinder und Enkelkinder der Betroffenen? Die Gespräche sind vertraulich und anonymisiert und sollte sich im Laufe der Interviews ein weiterer Beratungsbedarf herausstellen, stehen wir im Kontakt mit den Fachdiensten im Vinschgau. Die Frauen können sich gegebenenfalls an Psychologinnen oder Psychotherapeutinnen wenden.
Was geschieht mit den Lebensgeschichten der Frauen?
Bei der Studie handelt es sich um eine feministische partizipative Aktionsforschung, d.h. wir bleiben auch nach den Interviews im Kontakt mit den Teilnehmerinnen. Sie haben die Möglichkeit, die Studie mitzugestalten. Die Frauen wissen, was mit ihrer Geschichte passiert und in welcher Form ihre Erfahrungen erzählt werden. Als Aktionsforschung hat die Studie zudem einen direkten Nutzen für die Südtiroler Gesellschaft. Das Forum Prävention wird ausgehend von der Studie Präventionsmaterialien entwickeln und das Frauenmuseum in Meran wird die Studienergebnisse im Rahmen einer Ausstellung präsentieren, damit sich alle informieren können.
Welche Erkenntnisse sollen am Ende herauskommen?
Die Studie ist auf drei Jahre angelegt. Wir hoffen, dass wir danach mehr über die transgenerationalen Langzeitfolgen von sexualisierter Gewalt wissen. Wir möchten verstehen, wie man dieses Kontinuum der Gewalt innerhalb mehrerer Generationen und die Schweigekultur unterbrechen kann. Eine unserer Thesen ist nämlich, dass so viele Frauen Gewalt erfahren, weil Trauamata aus der Vergangenheit nicht aufgearbeitet werden und darüber geschwiegen wird. Die Studie wird die Gesellschaft nicht komplett verändern, aber wir möchten damit beginnen, über das Tabu zu sprechen.
Was können solche Langzeitfolgen sein?
Das hängt davon ab, was nach der Gewalterfahrung passiert. Kann die Betroffene darüber reden und erfährt sie Unterstützung, oder ist sie mit Schweigen, Wegschauen, Minimalisierung und Victim Blaming konfrontiert? Die fehlende Aufarbeitung des Geschehenen hat laut unserer Hypothese Auswirkungen auf die Beziehungsfähigkeit der betroffenen Frau. Kann sie beispielsweise ihren Kindern das Vertrauen ins Leben mitgeben, das diese bräuchten? Was macht das mit den Nachkommen? Die Verantwortung liegt nicht bei den Frauen, sondern bei der Gesellschaft, die wegschaut.
Interview: Karin Gamper
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