„Tabu brechen“
In Schlanders, Bruneck und Bozen erhalten Erwachsene mit Lese- und Schreibschwierigkeiten Unterstützung und Weiterbildung. Am Tag der Alphabetisierung wurde darauf aufmerksam gemacht.
Am Tag der Alphabetisierung (8. September) soll einmal mehr auf den Basisbildungsbedarf in Südtirol aufmerksam gemacht werden. Mit der Erweiterung eines Pilotprojekts in Schlanders, das Erwachsene mit Lese- und Schreibschwäche unterstützt, soll genau das umgesetzt werden.
Weltweit gibt es laut Unesco fast 770 Millionen Menschen, die kaum lesen und schreiben können. So kann zum Beispiel in Deutschland 17,5 Prozent der Bevölkerung nicht ausreichend gut lesen. In Österreich liegt der Wert bei 15,3 Prozent. Auch Italien – und somit das Land Südtirol – ist davon nicht ausgeschlossen: 27,7 Prozent der Erwachsenen haben eine auffallend niedrige Lesekompetenz. Woran das genau liegt, ist nicht auf eine einzelne Ursache zurückzuführen. Gesellschaftliche, schulische und persönliche Faktoren führen dazu, dass sich jemand die Kernkompetenzen Lesen und Schreiben nicht aneignen kann. „Es ist eine falsche Schlussfolgerung, dass geringe Lese- und Schriftkompetenz mit mangelnder Intelligenz einhergeht. Sehr selten sind kognitive Gründe als Ursache zu nennen“, erklärt Sonja Logiudice vom Landesamt für Weiterbildung.
Erwachsene mit Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb sind in den meisten Fällen erwerbstätig: Sie arbeiten in unterschiedlichen Wirtschaftszweigen (z.B. Handwerk, Baugewerbe, Landwirtschaft, Gastronomie, Dienstleistungen…), aber dort häufig im Niedriglohnsektor als Hilfskräfte.
„Probleme mit dem Lesen und Schreiben? Du bist nicht allein! Das betrifft fast jede 10. erwachsene Person. Wir unterstützen, anonym, kostenlos.“, so lautet die Aufschrift auf Brotsäcken, die Kundinnen und Kunden der Bäckerein im Vinschgau in diesen Tagen lesen können. Denn so wie das Brot ist auch das Lesen und Schreiben etwas Alltägliches. Solche Aktionen sollen auch bei den nächsten Standorten gestartet werden, um so auf den Bildungsbedarf aufmerksam zu machen und für das Thema zu sensibilisieren. „Nur gemeinsam können wir das Thema enttabuisieren und zeigen, dass Betroffene nicht allein sind“, sagt die Leiterin der KVW-Bildung Brigitte Abram.
Der Katholischer Verband der Werktätigen (KVW) bietet bereits seit einem Jahr in Schlanders eine Anlaufstelle für Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten und das einmal pro Woche, für etwa 40 bis 45 Minuten. In diesen zwölf Monaten haben sich bereits vereinzelt Erwachsene mit großem bis leichtem Basisbildungsbedarf oder deren Angehörige an den Service gewandt, einige beanspruchen ihn regelmäßig. „Die Hemmschwelle, Unterstützung zu suchen, ist sehr hoch, vor allem deshalb, weil nach wie vor sehr wenig über dieses Phänomen gesprochen wird und sich die Betroffenen dahinter verstecken“, erklärt KVW-Basisbildungstrainerin Heike Walden-Pünsch. Vertraulichkeit, Geduld und Ruhe seien in diesen Wochen und Monaten am wichtigsten gewesen: „Die Personen sollen Freude an dem haben, was sie hier bei uns tun“, sagt Walden-Pünsch.
Die Erfahrungen im Vinschgau zeigen: Es gibt sehr wohl Menschen in Südtirol, die ihre Lese- und Schreibkompetenzen verbessern möchten. Aus diesem Grund soll ab Oktober 2023 der gleiche Service auch in den KVW-Räumlichkeiten in Bozen und in Bruneck angeboten werden. Die individuelle Lernunterstützung ist freiwillig, vertraulich, kostenlos und findet in einem geschützten Raum statt. Die Lerninhalte sind alltagsbezogen und werden nicht vorgegeben, sondern gemeinsam mit den Teilnehmenden vereinbart, die somit ihre Bedürfnisse einbringen und den Lernprozess tatkräftig mitgestalten. Begonnen wird immer mit Basismaterial, allerdings darf auch eigenes Material mitgebracht werden.
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