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Hoch intelligenter Puppenspieler

Der Sieger Arsenii Mun (Foto: Anna Cerrato)

Der in Russland geborene, in Amerika studierende Pianist Arsenii Mun hat am Sonntag mit seiner Interpretation von Rachmaninoffs diabolischen Paganini-Variationen den 64. Internationalen Ferruccio Busoni-Klavierwettbewerb gewonnen. Auf den Plätzen zwei und drei folgen Antony Ratinov und Ryota Yamazaki. Ein Kommentar von Hubert Stuppner.

Immer, wenn in Bozen Busoni-Zeit ist, wird die Stadt zum Nabel der Klavierwelt, inzwischen auch Asien-weit. Doch so spektakulär dieser Event auch sein mag, man darf nicht vergessen, dass überall auf der Welt die Klavierwettbewerbe Hochkonjunktur haben und ständig neue und unvergleichliche Interpreten dem Musikmarkt zugeführt werden, mehr als er verträgt. Aber, so wie alle paar Jahre in der Tiefe des Universums neue Sterne entdeckt werden, die hell glänzen, und dann, wenn andere auftauchen, wieder verblassen, so geht es auch den Zentauren des transzendentalen Klavierspiels.

Dazu ein nachdenkliches Statement aus dem Munde eines, der um Glanz und Elend der Wettbewerbe Bescheid wusste und sich aus eigenen Kräften im wahren Wettbewerb, dem der Karriere, behauptet hat. Als ich 1987 Gelegenheit hatte, dem betagten Vladimir Horowitz in Mailand währender der Einspielung des A-Dur Konzerts von Mozart gegenüber zu treten, wagte ich – im Gedanken an die pianistischen Ambitionen der Stadt Bozen – den Maestro zu fragen, ob er denn bereit wäre, in dem „berühmten Busoni-Wettbewerb“ die Ehren-Präsidentschaft zu übernehmen. Der Meister lachte und meinte: „Wettbewerbe? Das sind Pferderennen. Der größte Pianist nach Liszt, Busoni, hätte den ersten gewinnen sollen, ihn aber nicht gewonnen. Wettbewerbe überschätzen die Wenigsten und unterschätzen die Meisten.“

Dies gibt mir Anlass, an die Verantwortung der Preisrichter zu erinnern und eine größere Öffentlichkeit und Transparenz der Operationen zu fordern. Seit eh und je setzen Wettbewerbsleiter Maßnahmen, um Willkür und Fehlurteile zu minimieren. Eine der ältesten ist die genügend große Anzahl an Preisrichtern mit ausgewiesener Fachkompetenz. In dieser Hinsicht glänzen der Tschaikowsky-Wettbewerb von Moskau und der Chopin-Wettbewerb in Warschau, die beide 20 Juroren vorsehen.

Der Busoni-Wettbewerb hatte anfänglich sieben ungeniert miteinander kommunizierende Juroren, unter meiner Leitung wurden es elf ständig wechselnde Preisrichter, die ich vertraglich an ein detailliertes Wertungsreglement verpflichtete. Für allgemein verbindliche Regeln habe ich mich auch in der Genfer „Féderation des Concours“ stark gemacht, als ich ein paar Jahre die Klavier-Branche vertreten durfte.

Der Zweitplatzierte Antony Ratinov (Foto: Anna Cerrato)

Es war die Zeit, als im Zuge der explosionsartigen Vermehrung der Klavierwettbewerbe eine Vereinigung von Wettbewerbs-geschädigten Pianisten Missbräuche aufzeigte und Juroren beim Namen auf eine „schwarze Liste“ setzte. Daraufhin gab es weltweit Versuche, Fairness und Transparenz durchzusetzen, z. B- jene der Südafrikanischen Universität von Johannesburg, die zur Vermeidung von gegenseitiger Beeinflussung der Juroren, von einer Session zur nächsten den Wechsel des Sitzplatzes im genügenden Abstand von einem Juror zum anderen verfügte, oder jene des italienischen „Klavier-Kardinals“ Piero Rattalino, der in der Jury des Busoni-Wettbewerbes die Rechtfertigung der Juroren vor ihren Kollegen verlangte, wenn ihre Noten allzu weit abseits vom Notendurchschnitt lagen.

Die Ranglisten

Diese und ähnliche Anstrengungen betreffen die Frage, wie man zu einer einigermaßen nachvollziehbaren Rangliste der Preisträger kommt. Das freie numerische Votum von 1 bis 10 oder von 1 bis 20 ist ein Unding. Es genügt, dass einer die Wucht der tiefsten oder der höchsten Note benutzt und das Votum ruiniert.

Große Künstler neigen manchmal zu solchen extremistischen Benotungen. Im berühmten ersten Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau 1958 hat Sviatoslav Richter alle Konkurrenten mit einer Null bewertet und die Höchstnote nur einem, dem Amerikaner Van Cliburn, zuerkannt. Einen ähnlichen Fall erlebte ich in Bozen, als ein Juror demselben Kandidaten in einer Runde die Noten 10 und in der darauffolgenden eine Null gab. Noten sind gefährlich. Vor allem dann, wenn man bedenkt, dass jeder Juror Gefahr läuft, sich mit dem einen oder anderen Kandidaten zu identifizieren. Ich habe deshalb in Bozen, in der Endphase, die Bezifferungsfreiheit der Juroren soweit beschränkt, dass jeder seine Namensliste in eine vorbezifferte Tabelle fortlaufend und äquidistant von eins bis zehn eintragen musste. Damit war die Grundfrage eines jeden Wettbewerbes als eines komparativen beantwortet: dass es nämlich darauf ankommt herauszufinden, wer besser spielt als der andere.

Der heurige Wettbewerb

Mit den Solo- und Kammermusik-Durchgängen haben Pianisten in der Regel ihre virtuosen und musikalischen Fingerabdrücke abgegeben. Nach diesen Prüfungen hat die Jury genügend Beweise der Bravour und kann zu einem Urteil kommen: nämlich das geniale Klavierspiel von dem nur talentierten unterscheiden.

Dass dieses Mal das Resultat für die Zulassung zum Orchester-Finale 90 Minuten auf sich warten ließ – die Präsidentin seufzte und sprach von einer „very tough discussion“ – lässt vermuten, dass es in der Jury sehr kontroverse und konkurrierende Konzepte gab, bei denen die Konzert-Pianisten offensichtlich die Oberhand behielten („im Respekt der Meinungen“, wie die Präsidentin diplomatisch hinzufügte).

Der Drittplatzierte Ryota Yamazaki (Foto: Anna Cerrato

Denn das Resultat mit den drei Orchester-Finalisten ist der Triumpf des soliden und virtuosen Klavierspiels. Die nachfolgenden Preise, der 4. an Antonio Chen Guang, der 5. Preis an Ron Maxim Huang und der 6.Preis an Zitong Wang sind nachvollziehbar, zeigen aber ein klares Gefälle gegenüber den drei Erstplatzierten. Schade nur, dass man in der Solo-Runde den anderen russischen Kandidaten Mikhail Troshkin übersehen hat, der, wiewohl völlig unspektakulär, dem Geist und der Form der interpretierten Werke gerecht wurde (sein bissig trockener „Scarbo“, die Chaconne, die Mozart-Sonate!). Eine gerechtere Platzierung hätte ihm vielleicht helfen können, im Westen um politisches Asyl anzusuchen.

Was beim Orchester-Finale bei der Live-Übertragung am Sonntag herauskam, war zu erwarten. Ryota Yamazaki mit einem korrekten, aber nicht überragenden Tschaikowsky-Konzert, wurde dritter. Anthony Ratinov mit dem Dritten Klavierkonzert von Prokofieff Zweiter und Arsenii Mun, wie zu erwarten, Erster. Er hat sich vor allem als hoch intelligenter Puppenspieler in Rachmaninoffs diabolischen Paganini-Variationen bewährt.

Alle drei wurden bereits im Solo-Finale auffällig: Ryota Yamazaki mit den 12 makellos gespielten Chopin-Etüden op. 25, Antony Ratinov mit einer herrlich gespielten 3. Chopin-Sonate und Arsenii Mun mit einem andauernden „Feux d’artifice“, in dem er als ein originell extravaganter pianistischer Hexenmeister die Puppen tanzen ließ.

Ausblick

Die Frage, wo heute der „Busoni-Wettbewerb“ steht, kann nur im Zusammenhang der gesamten Geschichte des Wettbewerbes und der Pianisten-Generationen gesehen werden, die er im Lauf der Jahre hervorgebracht hat. An den drei ersten Preisen kann man den sanften Übergang von gestern auf heute erkennen. Sowohl Ryota Yamazaki als auch Arsenii Mun studieren heute mit den Preisträgern des Busoni-Wettbewerbs der Achtziger Jahre Fabio Bidini und Sergei Babayan, während Ratinov alles von seiner Großmutter vom Moskauer Gnessin-Institut gelernt hat, von dem auch Lylia Zilberstain herkommt, die 1987 mit demselben Dritten Klavierkonzert von Prokofieff siegte.

Moderne Medien

Die Stärke des heutigen Wettbewerbes ist die der modernen Medien. Die Attraktivität des früheren „Busoni“ war das umfangreiche Konzert-Angebot, 50-60 Konzertverpflichtungen pro Jahr, mit denen die pianistischen Talente bereits über die Ausschreibung „angeworben“ wurden. Wie sehr dies den Unterschied von Wettbewerb zu Wettbewerb macht, erkennt man am wohl erfolgreichsten europäischen Wettbewerb, dem von Leeds unter Fanny Waterman, der in Punkto Konzertverträge alle anderen schlug: 150 Konzerte im gesamten alten Commonwealth. Was das gebracht hat, kann man an der beneidenswerten Liste seiner Preisträger erkennen.

Das, finde ich, sollte der künftige Schwerpunkt des Busoni-Wettbewerbes sein. Der Chopin Wettbewerb von Warschau braucht keine Konzertverpflichtungen, der Titel allein ist Garantie für eine Karriere. In dieser Situation ist der Busoni-Wettbewerb nicht. Um die potentiell besten Kandidaten zu bekommen, braucht er den Konzert-Deal: „Lieber Virtuose, kommst du in meinen Wettbewerb, so biete ich Dir 50 bis 60 Pflichtkonzerte in Italien und außerhalb!“ Mit Lortie und Zilberstain, die am Tag nach dem Wettbewerb Verträge mit führenden Konzertagenturen erhielten, war das Angebot nicht nötig, doch hätten wir es nicht der Ausschreibung angeschlossen, wären sie nicht nach Bozen gekommen.

Die großen amerikanischen Wettbewerbe machen es anders: Sie wenden große Summen auf, um die Sieger nach dem Wettbewerb in eigens organisierten Debut-Konzerten vorzustellen. Aber dafür müsste der Busoni-Wettbewerb sein Budget gewaltig aufstocken.

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